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Autor: Rhonheimer, Martin

Buch: Natur als Grundlage der Moral

Titel: Natur als Grundlage der Moral

Stichwort: "Lex naturalis est aliquid per rationem constitutum; sicut etiam propositio est quoddam opus rationis" (I-II, q.94, a.1)

Kurzinhalt: Für nicht wenige Interpreten ist dieser Satz zu einer Art befreiender Formel geworden, um die "Autonomie" der "lex naturalis" gegenüber der sogenannten "Naturordnung" zu konstatieren

Textausschnitt: 68c Sprachlich ist dieses "praeceptum" als solches streng genommen gar nicht ausdrückbar, wenigstens nicht in seiner Eigenheit als praktisches Urteil ("in actu exercito"), sondern höchstens als Befehl: "Tu das!". Der adäquate Ausdruck des praktischen Urteils als "praeceptum" scheint allein ein vom praezeptiven Inhalt dieses Urteils geprägter Willensakt zu sein (die "prosecutio" oder "fuga" auf der Ebene der "intentio" oder der "electio") bzw. die Handlung selbst. Die intersubjektiv erfahrene "Sprache" des präzeptiven Aktes der Vernunft als solcher ist letztlich die Handlung. Unmittelbar erfahrbar wird somit der präzeptive Akt der praktischen Vernunft in seinem Vollzug. Erst auf der Ebene der Reflexion - die aber bereits als bloßes Bewußtsein spontan in diesem Vollzug, ihn begleitend, gegenwärtig ist1 - wird dann auch die sprachliche Formulierung des "praeceptum" möglich: "Hoc est prosequendum et faciendum etc.", - wobei es sich dabei bereits um eine normative Aussage auf der Ebene der Reflexion, also eine "enuntiatio" mit normativem Gehalt, handelt, die in der Applikation durch ein Gewissenurteil selbst wieder praktisch wirksam wird. (Fs) (notabene)

68d Wir vermögen somit eine oft zitierte und nicht selten mißbrauchte Aussage des hl. Thomas in ihrem Zusammenhang zu stellen: "Das Naturgesetz ist etwas durch die Vernunft Konstituiertes, genau wie die "propositio" ein Werk der Vernunft ist."2 Der Sinn dieses Satzes ist offensichtlich folgender: Das Naturgesetz ist, wie jedes Gesetz, weder ein Habitus, noch ein Vermögen und auch kein bloßer Akt der Vernunft, sondern etwas, was durch die praktische Vernunft konstituiert wird, nämlich ein "praeceptum" der praktischen Vernunft, und zwar ein "praeceptum universale".3 (Fs)

69a Für nicht wenige Interpreten ist dieser Satz zu einer Art befreiender Formel geworden, um die "Autonomie" der "lex naturalis" gegenüber der sogenannten "Naturordnung" zu konstatieren. Ganz abgesehen davon, daß dies eine kontextfremde Interpretation wäre, wird dabei übersehen, daß die Suche nach einer solchen Autonomie auf einer naturalistischen Reduktion des Begriffes "Natur" beruht. Denn, wie noch ausführlich gezeigt werden soll, gehört auch die dieses "praeceptum" effektiv und inhaltlich begründende ratio naturalis zur "Natur". Eine metaphysische Disjunktion von Natur und Vernunft, wie auch von freiem Willen und Natur besitzt ja in einem thomistischen Kontext keinen Sinn4, - man müßte sich dazu eher auf Kant berufen. Eine solche dualistische Anthropologie, die unausweichlich zu einer spiritualistisch argumentierenden Ethik der grundsätzlichen Verfügbarkeit des "Natürlichen" führt, entspringt letztlich dem Versuch, einer weiterhin naturalistisch - "physizistisch" - interpretierten "Naturordnung" eine Vernunft gegenüberstellen, die den Charakter einer gegenüber dem Natürlichen ungebundenen Freiheit beansprucht.5 Damit wird nun aber gerade das Problem, das zur Debatte steht - die Konstituierung eines natürlichen Gesetzes durch die praktische Vernunft - eigentlich liquidiert. Aufgrund der von den hier angesprochenen Autoren entwickelten Neuinterpretation einer "lex naturalis" als Begründung "theonomer Autonomie" entsteht nämlich ein völlig anderes Paradigma der Normenbegründung: Das teleologisch-utilitaristische, das später noch eingehend zur Sprache kommen wird.6 (Fs) (notabene)

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