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Autor: Rhonheimer, Martin

Buch: Natur als Grundlage der Moral

Titel: Natur als Grundlage der Moral

Stichwort: Kritik: Werde, was du bist! (Pieper); Unmöglichkeit der Ableitung des "sittlich-Guten" aus der "essentia"

Kurzinhalt: Aber nicht das Wesen ist Ziel und Vollkommenheit; sondern es gibt eine durch Akte erreichte Vollkommenheit, die das Ziel des "Wesens" ist

Textausschnitt: 39c Die Bestimmung des sittlich Guten, verstanden als metaphysische Ableitung aus der sogenannten "Wesensnatur", erweist sich auch noch aus anderen Gründen, gerade im Kontext einer thomistischen Metaphysik, als problematisch. (Fs)

39d Diese Ableitung beruht nämlich auf der Annahme, daß das Wesen und die Natur der Dinge, also auch diejenige des Menschen, Ziel und deshalb Maßstab seiner Vervollkommnung bilde. So pflegten beispielsweise Heinrich Rommen1 oder Josef Pieper2 zu argumentieren, wobei letzterer die Formulierung "Werde, was du bist!" verwendet. Das ist ein schönes, aber analytisch ebenso unbrauchbares Prinzip. Denn, so kann man fragen: Wieso muß ich das, was ich bin, erst werden, wenn ich es doch bereits bin? Was für einen Sinn hat es zu sagen, daß man das, was man ist, erst sei, wenn man es geworden ist? Gemeint ist natürlich ganz einfach, daß der Mensch erst durch sittliches Handeln sein Menschsein verwirkliche, und er eben erst so im Vollsinne Mensch werde. Nur wird dann eben der Terminus "Mensch" zweimal in verschiedenem Sinne gebraucht: Zunächst in seiner Spezifität als "Wesen" des Menschen; danach in seinem Modus der Vollkommenheit, der eben gerade nicht ausmacht, daß ein Mensch das ist, was er ist, nämlich ein Mensch. (Fs) (notabene)

40a Metaphysische Argumente dieser Art rechtfertigen sich mit einer entsprechenden ontologischen Begrifflichkeit: Das "Wesen" existiere zunächst in seiner Spezifität als Unvollkommenheit. Erst durch das sittlich gute Handeln gelange es zu einem Modus der Existenz, der vollkommen ist. Das Wesen wird also als Ziel der Vervollkommnung verstanden.3 Eine solche Metaphysik ist essentialistisch und ich glaube, daß sie sich darin von derjenigen des hl. Thomas zutiefst unterscheidet.4 (Fs) (notabene Fußnote)

40b Bei genauerem Hinsehen wird offensichtlich, daß man sich damit gewissermaßen den Ast abschneidet, auf dem man sitzt. Denn hieß es zunächst, daß man aus der Wesensordnung des Seienden den Maßstab für das Gute - das gute Handeln - erschließen könne, so wird nun zusätzlich postuliert, daß dieses Wesen erst am Ende des Vervollkommnungsprozesses realisiert, in Existenz gesetzt und sichtbar wird. Das bedeutet nun aber, daß der Maßstab sich nicht aus dem, was ist, ergibt, sondern aus der Erkenntnis dessen, was sein soll. Impliziert wird also gerade eine gewisse Priorität und Autonomie der normativ-praktischen Fragestellung gegenüber der Erkenntnis dessen, was ist. Damit wird nun aber gerade die praktische Erkenntnis von der rein metaphysischen abgegrenzt und es erweist sich im erkenntnistheoretischen Essentialismus der Normbegründung ein innerer Widerspruch. Sätze wie "Werde, was du bist!", oder: "Was ist, soll auch sein" offenbaren sich damit als methodisch sinnlos und unbrauchbar. (Fs) (notabene)

40c Der Widerspruch wird nur verdeckt, wenn man die Erkenntnis des Vollkommenen - also der Tugend - als rein metaphysische Erkenntnis der Seinsordnung, der "Wesensnatur" oder als Deduktion aus einer "natura metaphysica" ausgibt. So gelangt man nämlich zu dem bekannten und immer wieder festgestellten Zirkel, man lese ja nur das aus der Natur heraus, was vorher bereits durch Antizipation der Erkenntnis der der Natur entsprechenden Vollkommenheit in sie hineingelegt wurde. Dieser Zirkel, so scheint mir, ist in einer Theorie der "lex naturalis" unvermeidlich, wenn sie sich in den Bahnen einer Metaphysik bewegt, die - anders als diejenige des hl. Thomas - das "Wesen" als die Fülle des Seins (als plenitudo essendi) interpretiert.1 (Fs)

40d Daß das Wesen - oder genauer: die "forma substantialis" - und damit die Natur "Ziel" ist, steht für Thomas zwar fest. Thomas ist die aristotelische Lehre aus dem zweiten Buch der Physik geläufig: forma est finis. Gemeint ist damit jedoch nicht, daß die Natur oder die substantielle Form, bzw. die eine bestimmte "natura" konstituierenden Prinzipien der species, Ziel des Prozesses der Vervollkommnung darstellen; vielmehr sind sie Ziel der Entstehung "finis generationis" eines Naturdinges.2 (Fs) (notabene)

41a Auch in seiner "Politik" benutzt Aristoteles den Grundsatz, daß die Natur Ziel sei, dies aber im Zusammenhang mit der Entstehung - der "genesis" - der Polis aus ihren Teilen: Menschen und Hausgemeinschaften.3 Das alles aber hat mit dem Verhältnis zwischen Natur und sittlich-Gutem noch gar nichts zu tun: Vielmehr behaupten sowohl Aristoteles wie auch Thomas, dieses Gute bilde in seiner habituellen Aneignung, der Tugend, gewissermaßen eine "zweite Natur". Natur und Vollkommenheit, deren Zusammenhang und Verknüpfung die Ethik untersucht, sind nicht auseinander deduzierbar. (Fs)

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