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Autor: Rhonheimer, Martin

Buch: Natur als Grundlage der Moral

Titel: Natur als Grundlage der Moral

Stichwort: Naturgesetz, lex naturalis: zweifach falsches Verständnis (Physizismus, Naturalismus, Dualismus)

Kurzinhalt: Naturgesetz ... denn dieses wird von der erkennenden Vernunft nicht einfach "vorgefunden", sondern von ihr einem Akt praktischer Erkenntnis konstituiert: Thomas begreift die natürliche praktische Vernunft als Gesetzgeber und nicht als Befolgerin ...

Textausschnitt: 26b Der gemeinsame Boden, den diese Prämissen bilden, ist das Unvermögen, die konsumtive Bedeutung der praktischen Vernunft für die Erkenntnis sittlicher Werte zu erfassen. Damit ist gemeint: Im Rahmen bestimmter moraltheologischer Schulrichtungen, durch die eine große Zahl heutiger Moraltheologen geformt wurden, verstand man das Naturgesetz oft als ein der praktischen Vernunft gewissermaßen in der Natur der Dinge vorliegender Erkenntnisgegenstand; man übersah dabei die, für Thomas gerade entscheidende, Rolle der praktischen Vernunft in der Konstitutierung des natürlichen Gesetzes; denn dieses wird von der erkennenden Vernunft nicht einfach "vorgefunden", sondern von ihr einem Akt praktischer Erkenntnis konstituiert: Thomas begreift die natürliche praktische Vernunft als Gesetzgeber und nicht nur als Befolgerin eines Gesetzes. (Fs) (notabene)

26c Eng verbunden mit einer verkürzten Auffassung des Naturgesetzes war auch die Tendenz einer Ableitung sittlicher Normen aus naturhaft ("physizistisch") verstandenem Sein (als "ontischer", vormoralischer Wert). Die an sich durchaus löbliche Absicht vieler heutiger Moraltheologen, eine solche Ableitung als unstatthaft oder zumindest unplausibel zu erweisen, wird jedoch dadurch fragwürdig, daß sie die dabei implizierte dualistische Dissoziierung von Vernunft und Natur, Sittlichkeit und Seinsordnung und schließlich die naturalistische Interpretation menschlicher Handlungsobjekte als vormoralische, ontische Gegebenheiten beibehalten; gerade dies wäre jedoch zu überwinden gewesen.

27a Der Physizismus oder Naturalismus - sowohl in seiner traditionellen Form, wie auch in neueren Varianten - beruht somit auf der Verkennung der konstitutiven Funktion der praktischen Vernunft als wertender Instanz des menschlichen Handelns. Diese sittlich wertende Vernunft gilt es heute wiederzuentdecken; ihr Begriff ist eng verbunden mit der Grundaufgabe der ratio überhaupt: Ordnung zu stiften, denn rationis est ordinare.1 Ohne ein angemessenes Verständnis dieser Aufgabe der Vernunft bleibt sowohl der Begriff der lex naturalis als ordinatio rationis, wie auch derjenige der sittlichen Tugend als ordo rationis im Dunkeln. (Fs)

27b Ohne die großen Verdienste neothomistischer Theoretiker des Naturgesetzes schmälern zu wollen, kann nicht bestritten werden, daß viele unter ihnen die spezifische Eigenart der praktischen Vernunft übersehen haben.1 Man erblickte in ihr nur zu oft, in verfehlter Weise, eine Kombination von theoretisch-metaphysischer Erkenntnis + Wille.2 Dies rührt daher, die lex naturalis - im Sinne des naturwissenschaftlichen Gesetzesbegriffes - mit einer im Sein der Dinge bestehenden Naturordnung zu identifizieren; dies bedeutet, den Begriff einer dem sittlichen Sollen zugrundeliegenden "Naturordnung" - oder "natürlichen Ordnung" (ordo naturalis) - in einer Weise zu verstehen, welche die Vernunft, wie kritisiert wurde, auf die Rolle eines "Ableseorgans" reduziert, das aufgrund der Erkenntnis dessen, was ist, vorschreibt, daß, was ist, nun auch sein solle. Formeln wie "Erfülle deine Wesensnatur!" oder "Werde, was du bist!" sind in dieser Art Naturgesetztheorien geläufig.3

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