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Autor: Rhonheimer, Martin

Buch: Die Perspektive der Moral

Titel: Die Perspektive der Moral

Stichwort: Sokrates; Utilitarismus, konsequentialistische Ethik; Leon von Salamis

Kurzinhalt: Ein konsequentialistischer Sokrates hätte sich also fragen müssen: (a) Welche sind voraussichtlich die Folgen einer Auslieferung des Leon und dessen Tod? (b) Welche sind voraussichtlich die Folgen meiner Weigerung, Leon auszuliefern, ...

Textausschnitt: 353a Ein Mann, der die Entscheidung für eine beste Welt als Folge der Tugend getroffen hat, war der Sokrates der platonischen Apologie1. Als die Tyrannenoligarchie der Dreißig ihm und seinen Freunden den Auftrag gaben, den unschuldigen Leon von Salamis zur Hinrichtung herbeizuschaffen, vollzog er keine Güterabwägung, sondern er weigerte sich einfach, eine Handlung zu vollziehen, die er als in sich ungerecht beurteilte, wissend, dass ihm dieser Ungehorsam den Tod bringen würde (was, wie er nicht wissen konnte, nicht eintrat, da die Dreißig vorher gestürzt wurden)2. (Fs) (notabene)

353b Sokrates handelte nach der zuerst von Demokrit formulierten Maxime "Unrecht erleiden ist besser als Unrecht tun"3. Diesem Satz stimmen wir alle ohne zu zögern zu. Das Schlimme für den Konsequentialismus ist, dass er ihn nicht rechtfertigen kann4. Denn der Satz setzt den Begriff intentionaler Handlungsvollzüge und die Perspektive des Handlungssubjekts, die Moral der "ersten Person" voraus: "Unrecht erleiden" ist nämlich für denjenigen, der hier entscheidet, ein nichtsittliches Übel und ein bloßer "Sachverhalt", ein Zustand, der ihn weder zu einem guten noch zu einem schlechten Menschen macht. "Unrechttun" hingegen ist ein sittliches Übel (auch für den Konsequentialisten), durch das er ein schlechter Mensch würde. Deshalb ist der Sinn des Satzes klar: "Ich ziehe es vor, in einen schlechteren Zustand versetzt zu werden, als Schlechtes zu tun (weil ich dadurch ein schlechter Mensch werde)". Dies entspricht auch der wörtlichen Übersetzung von Demokrits Maxime: "Wer Unrecht tut ist unseliger, als wem Unrecht geschieht"5. (Fs) (notabene)

354a Das Problem für den Konsequentialisten besteht darin, dass er ein solches Handlungsurteil gemäß seiner Theorie nicht vollziehen darf. Denn "ungerecht" ist für ihn eine Handlung ja nur, insofern sie "unrichtig" ist. Und um diese Richtigkeit zu bestimmen, muss er alle voraussichtlichen Folgen für alle Betroffenen abwägen, und zwar in gleicher Weise die Folgen eines Tuns, wie auch diejenigen eines Unterlassens. Ein konsequentialistischer Sokrates hätte sich also fragen müssen: (a) Welche sind voraussichtlich die Folgen einer Auslieferung des Leon und dessen Tod? (b) Welche sind voraussichtlich die Folgen meiner Weigerung, Leon auszuliefern, und meines eigenen Todes? Er hätte dann die Folgen des Todes von Leon und des seinen gegeneinander abwägen müssen. Dabei stünden nun Folgen-Sachverhalt (a) gegen Folgen-Sachverhalt (b). Und man sieht: Die Frage des Unrechttuns ist jetzt plötzlich gar keine sinnvolle Frage mehr. Die Frage ist nur noch: Welches "Ereignis" bewirkt die besseren Folgen? Und darin, dieses Ereignis (Tun oder Unterlassen) zu verursachen, bestünde dann die richtige Handlungsweise. (Fs) (notabene)

354b Die Frage "Ist es besser Unrecht zu erleiden oder Unrecht zu tun?" wird militaristisch also umgeformt in die Frage: "Was ist besser, dass ich durch Unterlassung der Handlung X eine üble Folge für mich selbst oder durch deren Vollzug eine üble Folge für einen anderen bewirke?". Dabei wird die "radikale Subjektivität des Sittlichen"6 ausgeklammert: Die Tatsache, dass ich der Handelnde bin. Das eigene Handeln wird wie ein bloßes "Ereignis" behandelt, das gewisse Folgen zeitigt. Das Handlungsurteil besteht darin zu bestimmen, welches Ereignis erwünschter ist. Etwa so, wie man fragen könnte: Was ist besser, dass durch ein Erdbeben hundert Menschen getötet werden oder nur fünfzig? Jedermann würde das erste Erdbeben für schlimmer halten. Erdbeben jedoch sind Naturereignisse; menschliche Handlungen sind es nicht. (Fs)

354c Sokrates hätte zum Schluss kommen können, dass die Folgen seines Todes schlimmer seien, als diejenigen des Todes von Leon (wahrscheinlich hätte er sogar gute Gründe haben können; heute wissen wir, dass gerade die nicht-utilitaristische Einstellung von Sokrates die besten Folgen hatte, denn anders wäre Sokrates nicht Sokrates gewesen und es hätte wohl auch keinen Philosophen Piaton gegeben usw.). Das utilitaristische Kalkül auf den Fall Sokrates angewandt zeigt aber gerade, dass es durch die Verwandlung aller sittlicher Handlungen in eine reine "Verursachung von Sachverhalten und Weltzuständen" und deren Bilanzierung die Beurteilung der Frage überflüssig macht, was man eigentlich tut7. (Fs)

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