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Autor: Rhonheimer, Martin

Buch: Die Perspektive der Moral

Titel: Die Perspektive der Moral

Stichwort: Umstände und Folgen; Prinzipien für die moralische Bewertung von Handlungsfolgen

Kurzinhalt: Was auf der Ebene der naturalen Identität des Aktes ein Umstand ist, muss auf der Ebene seiner moralischen Identität als intentionale Handlung eine konstitutive, der Ordnung der Vernunft widersprechende "Objektbedingung" ... genannt werden

Textausschnitt: 332a Der objektive Gehalt einer intentionalen (Basis-) Handlung ist, wie wir sahen, Gegenstand der Vernunft. Die Vernunft ist es, die die verschiedenen Handlungselemente (Handlungsabläufe, Umstände, "Wozu?", ethischer Kontext) zu einer gegenständlichen Einheit zusammenfügt und sie so - in Relation zu Prinzipien (Tugenden) - als gut oder schlecht zu identifizieren vermag: species moralium actuum constituuntur ex formis prout sunt a ratione conceptae, "die Artbestimmungen sittlicher Handlungen bilden sich aus Formprinzipien wie sie von der Vernunft erfasst werden"1 (Fs)

332b Wenn wir eine Handlung in ihrer naturalen Identität (in ihrem genus naturae) als rein physischen Handlungsablauf betrachten, so gibt es allerdings eine Menge von Umständen und Folgen bzw. Wirkungen dieses Handlungsablaufs, deren Abmessung durch die Vernunft nun tatsächlich diesem Vollzug als intentionale Handlung erst ihre moralische Identität (ihr genus moris) verleiht. Damit ein Diebstahl ein Diebstahl ist, muss die weggenommene Sache rechtmäßiger Besitz des anderen sein. Bezüglich des physischen Handlungsablaufs "jemandem etwas wegnehmen" ist dies lediglich ein "Um-stand" (es gehört zu den circumstantia). Für die Vernunft wird dieser jedoch zu einem konstitutiven Element der moralischen Identität dieser Handlung: Der Wille richtet sich hier gegen das Recht des anderen. Die Rechtsverletzung (die Verletzung des "dem anderen Zustehenden", "ihm Geschuldeten", des "Seinen") ist die eigentümliche objektive Wirkung der Handlungsweise, so wie sie der Vernunft gegenständlich ist; denn nur die Vernunft vermag ja gemäß dem ihr selbst entspringenden Prinzip Gerechtigkeit zu urteilen. Die Handlung ist demnach ein Akt der Spezies "Ungerechtigkeit". Was auf der Ebene der naturalen Identität des Aktes ein Umstand ist, muss auf der Ebene seiner moralischen Identität als intentionale Handlung eine konstitutive, der Ordnung der Vernunft widersprechende "Objektbedingung" (principalis conditio obiecti rationi repugnans)2 oder "wesentliche Objektdifferenz" (differentia essentialis obiecti)3 genannt werden (bezüglich der Ebene des genus naturae ist auch das intentionale "Wozu?", die "Aneignung", nur ein Umstand; für die Vernunft gehört dies jedoch zur Wesensform der Handlung). Ob der Diebstahl morgens oder abends stattfindet, ob zwei oder nur ein Pferd gestohlen werden, ob sich dies auf dem Land oder in der Stadt vollzieht, das alles ändert nichts an der Tatsache, dass es sich um einen Diebstahl handelt. Diese Gegebenheiten sind nun also Umstände in Bezug auf die moralische Identität der Handlung. Für die Vernunft bilden sie höchstens quantitative Elemente (ein mehr oder weniger schwerwiegender Diebstahl). (Fs) (notabene)

333a Falls der Bestohlene z.B. aus geschäftlichen Gründen auf seine Pferde angewiesen ist und ihm durch den Diebstahl als Folge ein wirtschaftlicher Schaden erwächst, so ist dies (in Bezug auf die objektive Identität "Diebstahl") ein Umstand - oder eine Folge - die der Handlung allerdings eine weitere objektive Dimension als zusätzliche Schädigung verleiht (auch wenn dies nicht ein weiteres Ziel war, das man mit dem Diebstahl verfolgte). Oder: Wenn A das Haus von B anzündet, so ist dies objektiv eine materielle Schädigung von B. Ob sich B im Haus befindet oder nicht, ist bezüglich der naturalen Identität der Handlung lediglich ein Umstand; nicht aber bezüglich ihrer moralischen Identität: Wenn B als Folge (der physischen Handlung) verbrennt, so ist diese Folge bezüglich der moralischen Identität der intentionalen Handlung entweder eine unbeabsichtigte Folge (weil A meinte, es sei niemand im Haus), für die A allerdings die volle Verantwortung trägt; oder aber A hat B's Haus gerade deshalb angezündet, weil er B töten wollte. Dann ist die Handlung objektiv ein Mord (obwohl bezüglich der naturalen Identität des Handlungsvollzugs "das Haus von B anzünden" das "im Haus sein" nicht mehr als ein Umstand ist; moralisch betrachtet, d.h. für die Vernunft, handelt es sich jedoch um eine konstitutive Objekt-Bedingung). Nun ist es wiederum denkbar, dass B ein gefährlicher Terrorist ist, und sein Tod zu Folge hat, dass ein von ihm geplantes Attentat am nächsten Tag nicht zur Durchführung kommt, so dass viele Menschen durch A's Handlung vor dem Tod bewahrt werden, und dass dieser B deshalb töten wollte, weil er genau dies zu erreichen beabsichtigte. Diese Folge ist nun allerdings bezüglich der moralischen Identität der Handlung von A wiederum nur ein - allerdings gewichtiger - Umstand; sie ändert nichts an deren objektiver Identität. A hat B gegenüber eine Ungerechtigkeit vollzogen (Mord), wenn auch mit einer an sich guten Absicht. A's Handlung "B töten" wird dadurch weder gerechtfertigt noch "besser", obwohl der ganze Handlungskomplex (also die Absicht einbezogen) freilich weniger schlecht ist, als wenn auch die Absicht eine schlechte gewesen wäre. (Fs) (notabene)

333b Für die praktische Vernunft gibt es demnach zwei Arten von Umständen und Folgen: (1) Solche die bezüglich des physisch-natural betrachteten Aktes reine Umstände sind, als nicht zum naturalen Wesen des Aktes gehören, für das Objekt der intentionalen Handlung jedoch und damit für die moralische Identität von Handlungen konstitutiv und gerade Bedingung sind; und (2) solche, die gerade bezüglich der moralischen Identität nur Umstände sind, diese Identität also nicht verändern. Und hier ist auch zu sagen: Solche Umstände der zweiten Art können durchaus wiederum bezüglich des naturalen Aktes keine Umstände sein, sondern dessen notwendige Wesenfolge: Wenn durch einen ehebrecherischen Sexualverkehr ein Kind gezeugt wird, so ist die Zeugung bezüglich des naturalen Aktes eine "direkte Wesensfolge" und keineswegs ein Umstand; wohl aber ist es ein Umstand bezüglich der moralischen Identität der Handlung "Ehebruch": Die Handlung ist ein Ehebruch (Verletzung der Treue) ganz unabhängig davon, ob nun dabei ein Kind gezeugt wird oder nicht4. (Fs) (notabene)

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