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Autor: Rhonheimer, Martin

Buch: Die Perspektive der Moral

Titel: Die Perspektive der Moral

Stichwort: Absolute Handlungsverbote; Lüge, Falschaussage; Kontext der Lüge

Kurzinhalt: Letztlich ist eine Falschaussage dann als ungerecht zu betrachten, wenn der andere vernünftigerweise erwarten kann, dass der Sprechende ihm die Wahrheit sagt ...

Textausschnitt: 313a Ein zweites Beispiel eines absoluten Handlungsverbots ist die Lüge. Die Lüge ist eine kommunikative Täuschungshandlung. Das heißt: Sie ist ein Verstoß gegen jenen Teil der Tugend der Gerechtigkeit, den man Wahrhaftigkeit nennt. Die Tugend der Wahrhaftigkeit könnten wir auch Kommunikationsgerechtigkeit nennen. (Fs)

314a Wahrhaftigkeit ist jene Art von Gerechtigkeit, die die kommunikative Basis des menschlichen Zusammenlebens bildet. Und eine Lüge ist eine willentliche Falschaussage innerhalb eines kommunikativen Kontextes. Ein kommunikativer Kontext ist dadurch gekennzeichnet, dass in ihm ein durch sprachliche Kommunikation vermitteltes gesellschaftliches Zusammenleben existiert, in welchem Sprache die Funktion eines Zeichens für Gedanken, Gefühle, Absichten usw. dessen besitzt, der dieses Zeichen benutzt. Missbrauch der Sprache durch Falschaussagen sind Akte kommunikativer Täuschung. (Fs)
314b Man unterscheidet "Lüge" von "Falschaussage". Eine Falschaussage ist ein Sprechakt, in dem das Zeichen (Wort) nicht mit dem Gedanken des Sprechenden übereinstimmt. Das kann geschehen, weil man z.B. eine Sprache nicht richtig beherrscht oder durch Versprechen. Eine "Lüge" ist eine willentliche Falschaussage, d.h. ein Sprechakt, in dem die genannte Nichtübereinstimmung gewollt ist. (Fs)

314c Eine Lüge ist aufgrund ihrer intentionalen Identität - also objektiv - eine sprachliche Handlung, die gegen die eigene Hinordnung auf menschliches Zusammenleben, sowie gegen das "Gut des anderen" gerichtet ist: Gegen sein Recht, dass die Worte seiner Mitmenschen "wahr" sind, d.h. mit dem, was der Sprechende denkt übereinstimmen. Er hat dieses Recht, nicht getäuscht zu werden, weil er das "Recht auf Gesellschaft" und das Recht auf Gleichheit der Anerkennung als Glied der Kommunikationsgemeinschaft hat. Zudem hat er auch das Recht auf das Funktionieren entsprechender Institutionen, was ebenfalls Wahrhaftigkeit voraussetzt. Lügen ist demnach dem Wohlwollen gegenüber dem anderen entgegengesetzt und ein Entzug der Anerkennung des anderen als mir Gleicher. (Fs) (notabene)

314d Diese objektive Identität der willentlichen Falschaussage innerhalb einer Kommunikationsgemeinschaft besteht unabhängig von weiteren Absichten, mit denen man eine Lüge vollzieht: Um jemandem zu schaden; um sich selbst, einem anderen oder sogar dem Belogenen selbst, einen Vorteil zu verschaffen bzw. einen Nachteil zu vermeiden; oder zum Scherz. Letztlich ist eine Falschaussage dann als ungerecht zu betrachten, wenn der andere vernünftigerweise erwarten kann, dass der Sprechende ihm die Wahrheit sagt ("vernünftigerweise" meint nicht "voraussichtlich" sondern "gerechterweise": Denn einer, von dem bekannt ist, dass er immer lügt, und dem deshalb niemand mehr glaubt, ist deshalb weiterhin ungerecht). (Fs)

314e Deshalb können wir Kontexte angeben, in denen eine willentliche Falschaussage keine Ungerechtigkeit sein kann. In einem Spiel z.B., in dem es gerade darum geht, den anderen hereinzulegen und Lügen zu den Spielregeln gehören, erwartet niemand, dass der andere die Wahrheit spricht, sondern nur, dass er sich an die Spielregeln hält; und Falschaussagen gehören hier zu den Spielregeln. Der kommunikative Kontext ist gemäß der Spielsituation modifiziert. Deshalb sind spielregelgerechte Falschaussagen auch keine Ungerechtigkeit. Sie richten sich intentional in keiner Weise gegen die kommunikative Basis des menschlichen Zusammenlebens. (Fs)

314f Ein anderer Fall sind Falschmeldungen, kommunikative Täuschungsakte, irreführende Angaben in einer Kriegssituation (z.B. zur Irreführung des Gegners über eigene operative Pläne, Standorte von Truppen, Angaben bei Kontrollen oder Verhören; spezieller auch die Fälschung von Dokumenten). Man kann solche Handlungen nicht als Verletzung der Kommunikationsgemeinschaft betrachten, weil eine solche hier ja gar nicht existiert. Wenn man sich durch Hinterhalte, Tammanöver usw. täuschen darf, so ist nicht einzusehen, wieso nicht auch durch Sprechakte. (Fs)

315a Man muss allerdings präzisieren: Genau insofern zwischen Kriegsparteien keine Gemeinsamkeit menschlichen Zusammenlebens besteht, so gibt es zwischen ihnen auch gar nicht die Möglichkeit eines Verstoßes gegen die kommunikative Basis eines solchen Zusammenlebens. Nun sind aber gegeneinander kriegführende Menschen in einem fundamentalen Sinne immer "Mitmenschen". Krieg ist eine Ausnahmesituation und entsprechende Kriegshandlungen sind nur so lange gerechtfertigt - vorausgesetzt natürlich, der Krieg selbst lasse sich moralisch rechtfertigen -, bis die Normalsituation "Frieden" wiederhergestellt zu werden vermag. Solche Menschen sind also potentielle Partner gesellschaftlichen Zusammenlebens und damit potentielle Glieder einer Kommunikationsgemeinschaft. Deshalb gibt es auch im Krieg Akte, die der Wiederherstellung der Kommunikationsgemeinschaft dienen; z.B. Verhandlungsangebote, etwa signalisiert durch die weiße Fahne. Diese zur Täuschung einzusetzen, wäre deshalb ein sogar besonders schwerwiegender Verstoß gegen die Kommunikationsgerechtigkeit und einer Lüge gleichzusetzen. So wie der Missbrauch aller anderen Handlungsweisen bzw. Kommunikationshandlungen, denen derselbe Sinn zukommt. Die Grenzen können hier durchaus fließend sein und es kann Grauzonen geben. (Fs)

315b Von Fichte stammt das Wort "Du darfst nicht lügen, und wenn die Welt darüber in Trümmer zerfallen sollte"1. Er meinte zwar, dass für ein moralisches Subjekt klar sei, dass "in dem Plane ihrer [der Welt] Erhaltung sicherlich nicht auf eine Lüge gerechnet ist". Aber der Satz ist schon deshalb fragwürdig, weil eine Situation, in der die Enthaltung von einer Lüge die Welt zertrümmerte, wohl zumindest einer Kriegssituation ähnlich wäre. Bevor man solche Spitzfindigkeiten diskutiert, wäre es allerdings ratsam, ein konkretes Beispiel für einen solchen Fall anzugeben. (Fs)

315c In seinen Vorlesungen zur Philosophie des Rechts aus dem Jahre 1819/20 macht sich Hegel über ein Beispiel aus Fichtes "System der Sittenlehre" lustig - es scheint allerdings von Benjamin Constant zu stammen und wurde bereits von Kant diskutiert2 - nämlich über den Fall, "dass einer wütend mit dem Dolche in ein Zimmer dringt und jemand ermorden will, der sich verborgen hat. Es fragt sich hier, ob ein anderer, der mit ihm im Zimmer ist und um den Verborgenen weiß, schlechthin gehalten sein soll, die Wahrheit zu sagen". Hegel löst den Fall elegant: Hier sei "das Sprechen nicht bloß ein Sprechen, sondern ein Handeln, und zwar ein ebensolches, als ob ich einem andern, der jemand ermorden will und keinen Dolch hat, den Dolch dazu in die Hand gebe"3. (Fs)

315d Das ist sicher richtig. Aber Hegel geht dem Problem aus dem Weg. Denn was tut man, wenn der Eindringling sich mit Schweigen nicht begnügt, sondern eine Antwort verlangt? Nichts sagen ist kein Problem, aber darf man etwas Falsches sagen? Es scheint, dass dies durchaus vertreten werden kann: So wie die Angabe der Wahrheit der Handlung "jemandem einen Dolch in die Hand zu geben" gleich ist, wäre eine falsche Auskunft hier eine reine Verteidigungshandlung ("ihm den Dolch aus der Hand nehmen"). Von der Existenz eines kommunikativen Kontextes kann nicht die Rede sein. Dass ihm die Wahrheit gesagt werde, kann der Eindringling nicht vernünftigerweise erwarten. Und sollte er nur im Affekt den Tod des anderen wollen, so wäre er später, nach erfolgter Ernüchterung, dem "Lügner" wahrscheinlich sogar dankbar, ihm eine falsche Angabe gemacht zu haben. Letztlich ist es jedoch sinnlos, solche Fälle kasuistisch zu diskutieren. Denn in der Wirklichkeit gibt es, je nach Situation, eine Vielfalt von Möglichkeiten: Um den Bedrohten zu verteidigen, könnte und müsste man ja ohnehin versuchen, den Eindringling zu überwältigen, ihn hinauszutreiben, oder wenigstens zu fliehen, usw. (Fs)

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