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Autor: Rhonheimer, Martin

Buch: Die Perspektive der Moral

Titel: Die Perspektive der Moral

Stichwort: Absolute Handlungsverbote; Strafe; Vergeltung, Gerechtigkeit, Rache; Todesstrafe

Kurzinhalt: Eine Strafhandlung bezieht sich also intentional auf "Wiederherstellung der Gerechtigkeit"

Textausschnitt: 308a
(2) Ein zweiter Fall von "X-Töten" wäre derjenige einer Affekthandlung. Hier ist nicht in erster Linie der Wille gegen das Leben des anderen gerichtet, sondern die Handlung erfolgt aus Leidenschaft. Genau insofern die Leidenschaft willentlich ist, lässt sich dieser Fall auf den ersten zurückführen: Die Handlung ist dann ungerecht, wenn auch nicht aus Ungerechtigkeit, sondern aus Leidenschaft vollzogen. Wird der freie Wille durch die Leidenschaft ausgeschaltet, liegt hier gar keine menschliche, zurechenbare Handlung vor. (Fs)

(3) Drittens schließlich ist Töten als Vergeltung, d.h. als Strafe denkbar1. Eine Strafe im allgemeinen ist ein Akt der Vergeltung. "Durch eine Strafe wird die Gleichheit der Gerechtigkeit wiederhergestellt"2. Eltern, Lehrer, Vorgesetzte in verschiedenen Bereichen und schließlich die öffentliche Staatsgewalt verhängen Strafen. Wo Strafe für Unrechttun ausbleibt, empfinden wir das spontan als ungerecht. Denn wer Unrecht tut erhält dadurch einen Vorteil auf Kosten der anderen. Die Strafe hat den Zweck der Wiederherstellung und Bewahrung der Gerechtigkeit: Denn wo man ungestraft Unrecht tun kann, da wird die Basis menschlichen Zusammenlebens, die auf der Gerechtigkeit beruht, zerstört. (Fs) (notabene)

308b "Strafen" bedeutet, einem, der Unrecht getan hat, gegen seinen Willen ein Übel zuzufügen, das den auf unfaire Weise willentlich erworbenen Vorteil kompensiert (vergilt) und deshalb die Gerechtigkeit wiederherstellt. Eine Strafe richtet sich nicht auf die Schädigung des Betroffenen (das wäre nicht Vergeltung, sondern Rache), sondern auf die Wiederherstellung verletzter Gerechtigkeit. Eine Strafe setzt deshalb immer Schuld voraus: Bestraft werden kann man nur, wofür man die Verantwortung trägt; denn andernfalls gäbe es keinen Grund, die verletzte Gerechtigkeit wiederherzustellen, weil ein (materielles) Unrecht, das ohne Schuld verübt wird, oder eine Gefahr, die auf der bloßen Existenz einer Person beruht, eben keine Verletzung der Gerechtigkeit ist. (Fs)

308c Eine Strafhandlung bezieht sich also intentional auf "Wiederherstellung der Gerechtigkeit". Sie ist objektiv eine Handlung der Gerechtigkeit. Sie verletzt nicht ein Recht eines anderen, sondern beraubt ihn des Vorteils, den er auf Kosten anderer erworben hat. Sie stellt wieder her, was der Bestrafte aus eigener Schuld aus dem Gleichgewicht brachte. Zudem aber werden Strafen um eines bestimmten Zieles willen vollzogen: Z.B. zur Besserung des Bestraften, zum Schutz anderer Menschen oder aber zur Verteidigung des Bestandes der Gesellschaft. (Fs)

308d Wenn einer, der schweres Unrecht vollzieht, sich der Justiz zu entziehen vermag, dann aber durch einen Unfall oder ein Naturereignis einen Schaden erleidet oder sogar stirbt, so betrachtet man das nicht als "Wiederherstellung der Gerechtigkeit". Was der Gerechtigkeitssinn des Menschen fordert, ist nicht der Schaden oder ein Übel für den Übeltäter (dies zu intendieren, wäre intentional kein Akt der Gerechtigkeit). Was man fordert ist die Bestrafung, d.h. ein Strafurteil der für die Wahrung der Gerechtigkeit zuständigen Instanz (deshalb wird auch Begnadigung und Amnestie aus angemessenem Grund nicht als ungerecht empfunden). Ein Zeichen dafür ist deshalb, dass - im oben genannten Fall - die Menschen dazu neigen, einen Schaden durch Unfall oder Naturereignis als "gerechte Strafe Gottes" zu interpretieren. Aufgrund des Begriffs der Vorsehung ist diese Interpretation durchaus zulässig und sie bewahrt zudem 309a Es ist sehr wichtig, das eigentliche Objekt der Strafhandlung von dem weiteren, mit ihr verfolgten Ziel zu unterscheiden. Eine Strafe, die überhaupt nichts "nützt", außer zu vergelten, würden wir nicht als sinnvoll betrachten; dennoch könnte sie eine gerechte Strafe sein (so etwa im Falle von Kleists "Michael Kohlhaas"). Strafen haben immer einen Nutzen; allerdings ist bereits die bloße Wiederherstellung von verletzter Gerechtigkeit ein solcher Nutzen. Denn sie bedeutet Wahrung der Gerechtigkeitsbeziehungen unter den Menschen. Anderer Nutzen ist diesem immer unter- bzw. auf ihn hingeordnet: Besserung, Abschreckung, Verteidigung, Schutz. Das liegt gerade daran, dass der Bestrafte ja ein Schuldiger ist und dass er bestraft wird, insofern er ein solcher ist, d.h. einen gegen das Recht der anderen gerichteten Willen besitzt, und er somit die Gemeinschaft der sich gegenseitig als Gleiche und in ihren Rechten anerkennenden Subjekte schädigt. Nur dadurch können sich die weiteren Ziele wie Besserung oder Schutz rechtfertigen. Deshalb ist dieser weitere Nutzen der Strafe selbst auch nie der Grund dafür, dass man überhaupt straft, bzw. dafür, dass Strafen ein Akt der Gerechtigkeit ist. Dies wäre eine utilitaristische Straftheorie, dergemäß eine Strafe wesentlich ein Mittel ist, einen optimalen gesellschaftlichen Zustand herzustellen. Wenn man so argumentiert, dann kann man eben grundsätzlich die Möglichkeit bejahen, auch einen Unschuldigen zu "bestrafen", nämlich dann, wenn dies für die Gesellschaft insgesamt oder die Gesamtheit der Betroffenen bessere Folgen zu haben verspricht. Weil utilitaristisch argumentierende Ethiker so denken, sind sie der Meinung, die traditionelle Norm "man soll nie einen Unschuldigen töten" beruhe ebenfalls auf einer bloßen Güterabwägung: Ein Schuldiger sei einfach jener, durch dessen Leben oder Existenz das Gemeinwohl in irgend einer Weise bedroht sei1. Das ist aber falsch: Die traditionelle Norm meinte, ein Schuldiger sei jener, der an der Bedrohung des Gemeinwohls Schuld d.h. wer dafür Veratwortung trägt, weil er die Gerechtigkeit verletzte. (Fs)

309b Es scheint einleuchtend, dass ein Unrecht, das das "öffentliche Wohl" gefährdet, allein durch jene Instanz oder Person vergolten werden kann, welche die Kompetenz besitzt, für dieses öffentliche Wohl die Sorge zu tragen. Strafen wie Geldbußen, Freiheitsentzug, Entzug von Bürgerrechten, Ausweisung, Verbannung, Ächtung, Tod können nur Akte der Gesamtgesellschaft, bzw. der legitimen öffentlichen Gewalt sein (genauso wie das Einziehen von Steuern oder Abgaben unter Strafandrohung, als Akte der distributiven Gerechtigkeit: Als Akte einer Privatperson wäre dies Erpressung und Diebstahl). Die Todesstrafe bedeutet Ausschluss aus der Gesellschaft durch Aufhebung der physischen Existenz einer Person. Als Vergeltungsakt (Wiederherstellung und Wahrung der Gerechtigkeit) kann dies intentional vollzogen werden nur von solchen, die eine entsprechende Kompetenz besitzen. Das gilt jedoch für alle Strafen: Vergeltung ohne Kompetenz ist Unrecht. Eltern dulden nicht, dass Geschwister sich untereinander strafen; auch unter Schülern, Angehörigen eines Unternehmens oder Soldaten wird dies nicht als zulässig akzeptiert: Das tun Eltern und entsprechende Vorgesetzte. Strafkompetenz (Kompetenz zur Wiederherstellung der Gerechtigkeit) setzt nämlich Zuständigkeit für das Ganze voraus, in Bezug auf das Gerechtigkeit wiederhergestellt werden muss (im Falle des Versagens der zuständigen Autorität bilden deshalb solche Gemeinschaften selbständig eine legitimierte "ad hoc-Autorität"). (Fs)

309c Wer mit Zuständigkeit in Bezug auf das Ganze handelt, der handelt also in einem anderen ethischen Kontext als derjenige, der als Privatperson handelt. Ein Akt der Vergeltung ohne Zuständigkeit kann keine Wiederherstellung von Gerechtigkeit sein. Wer als Privatperson ein Unrecht mit einer "Strafe" vergilt, der vergilt Unrecht mit Unrecht. Er intendiert nicht die Wiederherstellung der Gerechtigkeit, sondern das Übel des anderen als Vergeltung für das Üble, das dieser ihm zugefügt hat (Rache). Natürlich kann er das tun, weil er der Meinung ist, die Gerechtigkeit müsse wiederhergestellt werden. Aber insofern er dafür keine Kompetenz besitzt, kann der objektive Gehalt der intentionalen Basis-Handlung "X-Töten" kein Akt der Gerechtigkeit sein (das ist klassisch beschrieben in Kleists "Michael Kohlhaas"). (Fs)

310a Weil also eine Privatperson - d.h. eine Person als bloßer Angehöriger jener Gemeinschaft, in Bezug auf die Gerechtigkeit wiederhergestellt werden soll - grundsätzlich nicht "strafen" kann, so kann sie a fortiori auch nicht mit dem Tod "bestrafen". Folglich gibt es keinen denkbaren Fall, in dem "x-Töten" als Handlung einer Privatperson eine gerechte Handlung wäre. Sie ist immer und unter allen Umständen ungerecht. (Fs)

310b Daraus folgt jedoch keineswegs, dass die Todesstrafe existieren muss, bzw. dass ihre tatsächliche Verhängung immer schon - oder unter allen Umständen - als gerecht erwiesen ist. Das haben wir mit den bisherigen Überlegungen nicht bewiesen. Ja, es ist auch auf der Grundlage des bisher Gesagten immer noch möglich, sogar das Gegenteil zu beweisen. Was gezeigt wurde ist nur: Sofern und wenn "Verhängung der Todesstrafe" eine Handlung des Typs "strafen" ("Wiederherstellung der Gerechtigkeit) ist, so besitzt die darin implizierte Wahl des "Todes von X" bzw. die Handlung "X-Töten" eine intentionale Identität, die verschieden ist von jeder denkbaren Tötungshandlung einer Privatperson. Es handelt sich also, im genus moris um eine objektiv verschiedene Handlungsweise: Das implizierte "Wozu?" ist nämlich verschieden. Falls Strafen durch Töten gerechtfertigt werden kann, so ist die legitim verhängte Todesstrafe ein Akt der Gerechtigkeit und nicht eine "Ausnahme" des absoluten Handlungsverbots "Du sollst nicht töten"2. Deshalb beziehen sich auf diese beiden Handlungstypen auch verschiedene Normen3. (Fs) (notabene; Fußnote)

310c Damit ist das hier anstehende Problem eigentlich gelöst. Die Frage, ob nun die Verhängung der Todesstrafe tatsächlich der Gerechtigkeit entspricht, ist zu unterscheiden von der Frage, ob man die Möglichkeit einer Rechtfertigung der Todesstrafe nur als Ausnahme von der Norm "du sollst nicht töten" denken kann, so dass letztere also nicht ein absolutes Handlungsverbot wäre. Die zweite Frage - und nur um sie ging es hier - kann verneint werden4. (Fs)

310d Es handelt sich genau gleich wenig um eine Ausnahme, wie etwa die Möglichkeit der Verhängung von Geldbußen oder Gefängnisstrafen Ausnahmen sind von der Verpflichtung, anderer Eigentum und Freiheit nicht anzutasten. Wer also behauptet, die Todesstrafe könne nicht wie jede Art von Strafe als Akt der Gerechtigkeit begründet werden, der sagt implizit, "strafen" heiße überhaupt, eine Art Ausnahme von im allgemeinen geltenden moralischen Normen zu machen. Dann befindet man sich aber bereits in bedenklicher Nähe einer Straftheorie, in der Strafen generell nicht mehr als Akte der vergeltenden Gerechtigkeit, sondern als "nützliche Maßnahmen" ganz unabhängig von der Schuld des Bestraften angesehen werden5. (Fs)

311a Damit eine konkrete Art von Strafe gerechtfertigt werden kann, muss sie angemessen sein. Das gilt für Bußen, Freiheitsentzug und Todesstrafe, d.h. für jede Strafe in gleicher Weise. Die Angemessenheit der Todesstrafe bemisst sich nach der Notwendigkeit des Todes des Schuldigen zur Wiederherstellung der Gerechtigkeit und ihrer Bewahrung (Zusammenleben der Menschen gemäß Maßstäben der Gerechtigkeit). Dies wiederum hängt aber weitgehend von den Umständen ab und von den Möglichkeiten des Strafvollzugs. Generell können wir sagen: Um die Todesstrafe als angemessene Strafe zu rechtfertigen, müsste man zeigen, dass sie notwendig ist, um die Gerechtigkeit wiederherzustellen und das heißt auch: um die menschliche Gesellschaft als Rechtsgemeinschaft zu bewahren. Eine nicht-notwendige Strafe ist nämlich eine unangemessene Strafe. Die Herabsetzung der Schwelle dieser Notwendigkeit ist eng mit den modernen Möglichkeiten des Strafvollzugs verbunden und kann durchaus als zivilisatorischer Fortschritt begriffen werden6. Denn zunächst einmal scheint es ja gerechter, einem Übeltäter die Möglichkeit zur Wiedereingliederung in die Gesellschaft zu geben, wobei entsprechender Freiheitsentzug selbst eine angemessene Strafe sein kann. Zudem gibt es starke Argumente gegen die Todesstrafe, wie die Irreparabilität eines Justizirrtums7. (Fs)

311b Deshalb ist aufgrund der Argumentation, dass die Todesstrafe - wie jede Strafe - prinzipiell ein Akt der vergeltenden Gerechtigkeit ist, noch nichts darüber entschieden, ob sie auch ein angemessener Akt der vergeltenden Gerechtigkeit ist. Das kann auch von den Umständen abhängen; es ist aber durchaus auch möglich, sie grundsätzlich für unangemessen zu halten. Es ist kennzeichnend für viele traditionelle aber auch für die utilitaristische Begründung (oder Ablehnung) der Todesstrafe, diese beiden Fragen nicht auseinanderzuhalten8. Deshalb sei wiederholt: Akte der Selbstbehauptung der Gesellschaft wie die Todesstrafe können nur gerechtfertigt werden, weil und insofern sie in sich Akte der Gerechtigkeit sind und sie können deshalb nur jene treffen, die Schuld tragen9. Wir können also nicht - utilitaristisch - sagen, die Todesstrafe sei z.B. aus Nützlichkeitserwägungen abzulehnen, zugleich aber sei es prinzipiell diskutierbar, ob im Einzelfall ein Todesurteil gegen einen Unschuldigen aus Nützlichkeitsgründen gerechtfertigt werden könnte. Auch wenn Utilitaristen in der Regel Gründe für den Nachweis finden, dass auch dies nicht zur optimalen Folgenbilanz führen könne, so liegt das Bedenkliche schon darin, dass sie diese Möglichkeit überhaupt ernsthaft erwägen. (Fs)

312a Für Töten im Krieg und Tyrannenmord gelten analoge Argumente, die hier nicht weiter ausgeführt zu werden brauchen. Man hat daraufhingewiesen, wie der ideologische Pazifismus, der Töten in kollektiver Selbstverteidigung überhaupt als unmoralisch behauptet, dazu führt, dass - falls man einmal das nackte Leben zu verteidigen hat - dann einfach alles erlaubt ist und somit die Unterscheidungen zwischen Krieg, Mord und Massaker unerheblich werden10. (Fs)den Menschen vor der Versuchung, sich über den Schaden des anderen zu freuen. Denn man freut sich ja darüber, dass die Gerechtigkeit wiederhergestellt wurde. (Fs)

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