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Autor: Rhonheimer, Martin

Buch: Die Perspektive der Moral

Titel: Die Perspektive der Moral

Stichwort: Thomas: finis cuius - finis quo; zwei Aspekte von "Ziel": "Ziel von etwas" und "Ziel für etwas"; Aristoteles

Kurzinhalt: Zunächst könnte man meinen, in einer Ethik, die vom erkannten Gott ausgeht, sei doch bereits alles entschieden: Das letzte Ziel des Menschen ist eben Gott.

Textausschnitt: a) Zwei Aspekte von "Ziel": "Ziel von etwas" und "Ziel für etwas"

65c Es wurde gesagt, das Glück bestehe in dem, was allein wir vernünftigerweise um seiner selbst willen erstreben können. Die Frage nach dem Glücklichsein ist demnach eine Frage, die von Anfang an unter dem Anspruch von Kriterien der Vernünftigkeit steht. Wodurch wir glücklich werden können, welches jenes Gut ist, dessen Erlangen "für sich allein das Leben begehrenswert macht, so dass es keines Weiteren bedarf", ist nicht eine Frage der Empirie oder von subjektiven Glückserlebnissen, sondern findet sich durch vernünftige Überlegung, die sich in der Ethik als Analyse handlungsmetaphysischer und anthropologischer Art vollzieht1. (Fs)

66a Die Behandlung der Frage bei Thomas v. Aquin ist mehrschichtig2. Erstens, weil die philosophische Perspektive in eine theologische Synthese eingebettet ist. Zweitens weil Thomas die Frage unter zwei verschiedenen Gesichtspunkten angeht, wobei die Behandlung des Themas bei Aristoteles fast ausschließlich einen der beiden Gesichtspunkte berücksichtigt. (Fs)

66b Zunächst könnte man meinen, in einer Ethik, die vom erkannten Gott ausgeht, sei doch bereits alles entschieden: Das letzte Ziel des Menschen ist eben Gott. Wie denn könnte das auch anders sein? In der Tat ist dies ein häufig anzutreffender Kurzschluss. In Wirklichkeit ist die Sache nicht so einfach. Aus der Existenz Gottes, ja sogar aus der Existenz eines Schöpfergottes, ergibt sich keineswegs unmittelbar, dass Gott das letzte Ziel menschlichen Handelns ist. (Fs) (notabene)

66c Thomas unterscheidet nämlich gemäß einer Einteilung, die er von Aristoteles übernimmt, zwischen zwei Aspekten, unter denen wir von "Ziel" sprechen können: Als "finis cuius" und als "finis quo"1. Wir können das übersetzen als "Ziel von etwas" und "Ziel für etwas". So ist das "Ziel von" (finis cuius) einem Geizhals das Geld; das "Ziel für" einen Geizhals (der "finis quo") hingegen ist das Besitzen von Geld. Ersteres ist die "Sache", die Ziel ist; das Zweite ist der Akt oder die Tätigkeit, die sich auf die "Sache" erstreckt: das heißt das Streben danach und das Erlangen. Es sind zwei Aspekte eines einzigen Sachverhaltes. (Fs) (notabene)

66d Nun ist es für Thomas (und auch für Aristoteles, wenn auch in etwas anderer Weise) klar, dass überhaupt alles Seiende auf Gott als Letztes ausgerichtet ist. Das ist in der Metaphysik - bei Aristoteles bereits in der Physik - entschieden. Insofern gibt es gar nichts mehr zu beantworten. Aber die Perspektive des "finis cuius" ist gar nicht die Perspektive der praktischen Philosophie. Wenn wir auch wissen, dass alle Geschöpfe aufgrund ihres Geschaffenseins, auf Gott als letztes Gut des ganzen Universums bezogen sind ("Gott verherrlichen") - und Aristoteles sagt, dass Tiere und Pflanzen von Natur aus danach streben, "am Ewigen und göttlichen Anteil zu haben"1 -, so wissen wir noch lange nicht, welches nun das letzte Gut für den Menschen als praktisches Subjekt ist; d.h. welches Gut er allein vernünftigerweise in seinem Handeln als um seiner selbst willen erstreben und erlangen kann, - und demnach eben: worin denn sein Glück liege; denn das ist ja die Frage, um die es hier geht. "Es geht also nicht um die metaphysische (vorgegebene) Zielbestimmtheit des Menschen als Schöpfungswesen, sondern um die von ihm selbst vollzogene Zielsetzung, die in seinem praktischen Verhalten maßgeblich ist..."2. Was uns interessiert, ist nicht das letzte Ziel und Gut auf das der Mensch aufgrund seines kreatürlichen oder endlichen Seins - wie auch Tiere, Pflanzen und unbelebte Körper - als auf das "bonum commune" des geschaffenen Universums verwiesen ist, sondern das letzte Ziel seines Handelns. Metaphysisch wissen wir, dass der Mensch genau in dem Maße Gott verherrlicht, d.h. sich auf ihn als Bonum commune der Schöpfung ausrichtet, in dem er das dem Menschen eigentümliche Letzte (das wir Glück nennen) erreicht. Die Frage bleibt also offen, worin denn eben dieses letzte Ziel bestehe, durch dessen Erreichung der Mensch Gott "verherrlicht". (Fs) (notabene)

67a Es ist ja zumindest denkbar, dass sich das seinsmäßige (metaphysische) Auf-Gott-Ausgerichtetsein des Menschen nicht darin äußert, dass Gott in irgend einer Weise Gegenstand einer menschlichen Tätigkeit ist (z.B. Erkennen oder Lieben), sondern dass es eine andere Tätigkeit ist, durch die der Mensch Gott verherrlicht. Die Tiere verherrlichen Gott, indem sie sich nach den Regeln der Natur fortpflanzen und die ihrer Natur eigentümlichen Akte vollziehen; aber all dies hat mit Gott nichts zu "tun". Sollte Gott auch "finis quo" des Menschen, also Ziel für den Menschen, sein, dann müsste gerade das Spezifische des Menschen darin bestehen, dass Gott Gegenstand seiner Tätigkeit werden kann. Es muss dann eine menschliche Tätigkeit geben, die sich auf Gott bezieht. Und sie selbst müsste als Jenes [eg: sic] zu erweisen sein, was allein man vernünftigerwiese um seiner selbst willen erstreben kann. Dies müsste aber zunächst aufgezeigt werden, und auch die Tätigkeit, um die es sich dabei handelt, bedarf des Nachweises. (Fs) (notabene)

67b Thomas leistet nun tatsächlich einen solchen Aufweis, wobei er in zwei Schritten vorgeht: Zunächst wird die Frage gestellt, im Bereich welcher Güter überhaupt das letzte Ziel des Menschen - sein Glück - zu finden sei. Erst im zweiten Schritt wird dann ausgemacht, dass Glück eine Tätigkeit ist, und in welcher Tätigkeit dieses besteht. (Fs)

67c Aristoteles kennt den ersten Schritt in der Analyse der "Lebensformen". Da nennt er folgende: Das Genussleben, das politische Leben, das vor allem auf die Ehre zielt, und das Leben der philosophischen Betrachtung. Daneben auch das auf Gelderwerb gerichtete Leben. Der Hauptakzent liegt jedoch auf dem zweiten Aspekt. Es ist deshalb nicht einfach, den Ansatz von Thomas und den von Aristoteles zusammenzubringen, auch aus Gründen, die später noch zur Sprache kommen werden. (Fs)

67d In beiden Fällen geht es jedoch um die Analyse dessen, was man allein vernünftigerweise als ein Letztes, als um seiner selbst willen erstreben kann. Oder anders gesagt: Es geht nicht um "die Frage nach dem, was wir sollen, sondern nach dem, was wir eigentlich und im Grunde wollen"1. Diese Formulierung erscheint nur dann eigenartig, wenn übersehen wird, dass "Wollen" ein durch Vernunft geleitetes Streben ist. Was wir eigentlich und im Grunde wollen ist eben präzis jenes, was wir allein vernünftigerweise erstreben können, denn "Wollen" heißt ja so viel wie "unter der Leitung der Vernunft erstreben". Deshalb gilt: Wer das Glück nicht dort sucht, wo es nach Maßstäben der Vernunft zu finden ist, ist nicht einer, der einfach einen anderen Lebensstil, andere Auffassungen oder einen anderen Geschmack hat; vielmehr irrt er sich einfach und ist unvernünftig. Und er wird dann auch überhaupt für sein Leben, sein Handeln keine angemessene Richtschnur besitzen. Dies nicht, weil das Wissen darum, worin das Glück des Menschen besteht, uns schon sagen würde, was wir nun im einzelnen zu tun haben. Sondern weil dieses Wissen uns darüber Aufschluss gibt, nach welchem Kriterium wir bestimmen können, was auch im einzelnen zu tun gut ist. (Fs) (notabene)

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