Datenbank/Lektüre


Autor: Rhonheimer, Martin

Buch: Die Perspektive der Moral

Titel: Die Perspektive der Moral

Stichwort: Praktische Vernunft; Gewissheit; konkret - allgemein

Kurzinhalt: die "Gewissheit der Erkenntnis des Anspruchs" nehme "im Prozess der konkretisierenden Determination" ab, würde bedeuten,

Textausschnitt: 264a Etwas ganz anderes bedeutetete es allerdings zu behaupten - genau dies wird aber von den genannten Interpreten offensichtlich behauptet -, mit zunehmender Konkretisierung wachse auch die Unsicherheit des Handlungsurteils, als ob der Handelnde bezüglich des konkret zu Tuenden, weil es partikular ist, nie zur Gewissheit kommen könne, sittlich richtig, d.h. in Erfüllung des Prinzips gehandelt zu haben; und deshalb sei auch die Verbindlichkeit konkreter praktischer Urteile geringer, als jene allgemeiner Regeln, die mit Notwendigkeit und ausnahmslos gelten. In diese Richtung scheinen in der Tat gewisse Äußerungen etwa von L. Honnefelder1 und F.-J. Bormann2 zu zielen. Schockenhoff hingegen drückt sich in dieser Beziehung eher unklar und zweideutig aus: "Deshalb kann es auf der Ebene der konkreten Schlussfolgerungen der praktischen Vernunft überhaupt keine allen gemeinsame Wahrheit oder praktische Richtigkeit mehr geben, denn die einzelnen Handlungen entziehen sich in ihrer Singularität und Kontingenz der Erkenntnis durch allgemeine und notwendige Begriffe"3. Zu sagen, das Singuläre entziehe sich "in seiner Singularität und Kontingenz" dem allgemeinen Begriff, ist nun freilich zunächst wiederum trivial und schlicht tautologisch4. Aber was soll heißen, es gebe "auf der Ebene der konkreten Schlussfolgerungen der praktischen Vernunft überhaupt keine allen gemeinsame Wahrheit oder praktische Richtigkeit"? Von einem aristotelischen Standpunkt her ist diese Aussage nicht vertretbar. Was Aristoteles praktische Wahrheit" nennt, ist ja gerade das verschiedenen konkreten praktischen Urteilen Gemeinsame: ihre Übereinstimmung mit dem "richtigen Streben", d.h. mit den Zielen der sittlichen Tugenden. Gerade diese Art von Wahrheit und Allgemeinheit ist die Weise, in der auch das Singuläre, Kontingente, das operabile in seiner Konkretion, "wahr" genannt werden kann; ein genuin praktischer Typus von Wahrheit, welche das operabile in seiner Singularität und Kontextualität nicht aufhebt, es aber gleichzeitig intentional einem praktischen, jeweils das Ziel einer sittlichen Tugend formulierenden Prinzip zuordnet, so dass sie dann auch, je nach dem, eine "gerechte", "maßvolle", oder "tapfere" Handlung genannt werden kann. Die "Wahrheit" des Konkreten besteht damit letztlich darin, dass es durch das Prinzip, das es zu verwirklichen vorgibt, gerechtfertigt und in diesem Sinne aus ihm "abgeleitet" werden kann; seine Unwahrheit läge im Widerspruch zu diesem Prinzip, in seiner "Unableitbarkeit" also. Präzis in diesem Sinn ist eben auch die nur in der letzten Konkretion des Einzelfalles bestehende Praxis auch der Erkenntnis durch allgemeine Begriffe zugänglich und kann es deshalb auch eine praktische Wissenschaft geben5. (Fs)

265a Wiederum trivial ist auch, dass konkrete Handlungsurteile in vielen Fällen auf Grund der Komplexität der Materie oder der Umstände den Handelnden in Unsicherheit oder sogar Perplexität belassen. Das wiederum liegt jedoch nicht an der Konkretion des Urteils als solcher, sondern an der Komplexität der Materie und der Umstände. Handlungstheoretisch und aus der Perspektive des Handlungssubjekts betrachtet muss hingegen betont werden, dass gerade das konkrete Handlungsurteil einen höheren Grad von Gewissheit aufweisen muss, als das allgemeine Prinzip. Gerade die Allgemeinheit von Prinzipien, gestattet ja wegen ihrer praktischen Unterdeterminiertheit noch gar kein konkretes Handeln - und Handeln ist immer konkret - und belässt damit den zum Handeln Aufgerufenen in einem Zustand der Ungewissheit und Unentschlossenheit; und dies solange, bis er zur Konkretion hinsichtlich des z.B. hier und jetzt "Gerechten" bzw. des dem Mitmenschen Geschuldeten und Zuträglichen gelangt ist. Handeln kommt gerade dann zustande, wenn jener Grad von Gewissheit erlangt ist, den allein die Konkretisierung des Prinzips durch das Urteil der Klugheit ermöglicht. Der Handelnde wird dann den letzten, handlungsauslösenden Spruch seiner praktischen Vernunft (das iudicium electionis) als das verbindlichste aller Urteile empfinden und sich deshalb auch "verpflichtet" fühlen, zu tun, was die Vernunft ihm gebietet. Wie Honnefelder zu behaupten, die "Gewissheit der Erkenntnis des Anspruchs" nehme "im Prozess der konkretisierenden Determination" ab, würde bedeuten, mit zunehmender Konkretisierung praktischer Vernunft entfernte sich das handelnde Subjekt immer mehr vom Entschluss zum Handeln, um schließlich beim Urteil über die Einzelhandlung angelangt, sich hinsichtlich des sittlich Gebotenen im Zustand maximaler Unsicherheit zu befinden. Was abnimmt, ist allein die Verallgemeinerungsfähigkeit des konkret-situativen Anspruchs, die mögliche Richtigkeit dieser konkreten Handlungsweise für andere bzw. für alle Fälle. Aber auch das ist wiederum trivial. (Fs) (notabene)

265b Mit dem genannten "Gesetz der abnehmenden Gewissheit" und der damit verbundenen Interpretation der Mehrstufigkeit praktischer Vernunft wird in der Tat zuweilen erheblicher Missbrauch getrieben. [...]

____________________________

Home Sitemap Lonergan/Literatur Grundkurs/Philosophie Artikel/Texte Datenbank/Lektüre Links/Aktuell/Galerie Impressum/Kontakt