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Autor: Voegelin, Eric

Buch: Die neue Wissenschaft der Politik

Titel: Die neue Wissenschaft der Politik

Stichwort: Die gnostische Revolution 1; d. Fall des Puritanismus; Periodisierung der westlichen Geschichte; Hooker

Kurzinhalt: Die Vorstellung eines modernen auf das Mittelalter folgenden Zeitalters ist selbst eines der Symbole, welche die gnostische Bewegung geschaffen hat. Sie gehört in die Klasse der Symbole des Dritten Reiches.

Textausschnitt: V. Die gnostische Revolution - Der Fall des Puritanismus

1. Die Periodisierung der westlichen Geschichte

186a Die Analyse gnostischer Erfahrungen hat zu einem Begriff der Modernität geführt, der von der üblichen Bedeutung dieser Bezeichnung abweicht. Gemeinhin wird die westliche Geschichte in Perioden eingeteilt mit einem deutlichen Einschnitt um 1500, wobei die Zeit danach als die neuzeitliche Phase der westlichen Geschichte gilt. Wird jedoch die Modernität als das Wachsen des Gnostizismus definiert, das schon etwa im neunten Jahrhundert beginnt, dann wird sie zu einem Prozeß innerhalb der Entwicklung der westlichen Gesellschaft, der bis weit in deren mittelalterliche Periode zurückreicht. Es müßte daher die Konzeption einer Aufeinanderfolge von Phasen durch die von einer kontinuierlichen Evolution ersetzt werden, in deren Verlauf der moderne Gnostizismus siegreich zur Vorherrschaft über eine kulturelle Tradition aufsteigt, die von den mittelmeerischen Entdeckungen anthropologischer und soteriologischer Wahrheit herstammt. Diese neue Konzeption ist an sich lediglich ein Ausdruck des gegenwärtigen Standes der empirischen Geschichtsschreibung und bedarf daher keiner weiteren Rechtfertigung. Dennoch bleibt die Frage zu klären, ob die übliche Periodisierung nicht in einem Zusammenhang mit dem Problem des Gnostizismus steht. Denn es wäre erstaunlich, wenn ein Symbol, das in der Selbstinterpretation der westlichen Gesellschaft so weite Anerkennung gefunden hat, nicht auch in irgendeinem Zusammenhang mit dem fundamentalen Problem der Repräsentation der Wahrheit stünde. (Fs) (notabene)

187a Tatsächlich besteht ein solcher Zusammenhang. Die Vorstellung eines modernen auf das Mittelalter folgenden Zeitalters ist selbst eines der Symbole, welche die gnostische Bewegung geschaffen hat. Sie gehört in die Klasse der Symbole des Dritten Reiches. Seitdem Biondo im fünfzehnten Jahrhundert das Jahrtausend von 410, dem Fall Roms, bis zum Jahre 1410 als ein abgeschlossenes, der Vergangenheit angehörendes Zeitalter betrachtete, wurde allgemein das Symbol eines neuen, modernen Zeitalters von den sich einander ablösenden humanistischen, protestantischen und aufgeklärten Intellektuellen gebraucht, um ihrem Bewußtsein als Repräsentanten einer neuen Wahrheit Ausdruck zu verleihen. Aber gerade weil die Welt unter der Führung der Gnostiker in häufigen Abständen erneuert wird, ist es unmöglich - will man die Forderungen der Gnostiker berücksichtigen -, zu einer kritisch gerechtfertigten Periodisierung zu gelangen. Durch die immanente Logik ihrer eigenen theologischen Symbolik ist jede der gnostischen Wellen gleichermaßen berechtigt, sich selbst als die große Bewegung der Zukunft zu betrachten. Es ist keinerlei Grund vorhanden, weshalb eine moderne Periode eher mit dem Humanismus beginnen sollte als mit der Reformation, oder eher mit der Aufklärung als mit dem Marxismus. Das Problem kann also nicht auf der Ebene der gnostischen Symbolik gelöst werden. Wir müssen auf die Ebene der existentiellen Repräsentation hinabsteigen, um dort Gründe für die Periodisierung zu finden. Denn eine Epoche würde in der Tat markiert sein, wenn im Kampf um die existentielle Repräsentation ein entscheidender revolutionärer Sieg der gnostischen Bewegung über die Kräfte der westlichen Tradition zu verzeichnen wäre. Wenn die Frage auf diese Weise gestellt wird, bekommt die traditionelle Periodisierung ihren Sinn. Während keiner der Bewegungen auf Grund ihres Wahrheitsgehaltes der Vorrang gebührt, zeichnet sich in der westlichen Geschichte eine deutliche Epoche durch die Reformation ab, die als ein erfolgreicher Einbruch gnostischer Bewegungen in die westlichen Institutionen zu verstehen ist. Die Bewegungen, die bisher in einer sozialen Grenzposition existierten - geduldet, unterdrückt oder im Untergrund -, brachen in der Reformation mit unerwarteter Kraft auf breiter Front durch, mit dem Ergebnis, daß sie die Universalkirche spalteten und dann dazu übergingen, Schritt für Schritt die politischen Institutionen in den Nationalstaaten zu erobern. (Fs) (notabene)

188a Der revolutionäre Durchbruch der gnostischen Bewegung beeinflußte die existentielle Repräsentation in der gesamten westlichen Gesellschaft. Das Ereignis ist von solchem Ausmaß, daß in dieser Studie nicht einmal ein Überblick über seine allgemeinen Charakteristika versucht werden kann. Um das Verständnis zumindest einiger Grundzüge der gnostischen Revolution zu vermitteln, wird es zweckmäßig sein, die Analyse auf einen besonderen nationalen Raum und eine bestimmte Phase innerhalb desselben zu konzentrieren. Gewisse Aspekte des puritanischen Vorstoßes in die englische öffentliche Ordnung dürften der geeignetste Gegenstand für eine kurze Untersuchung sein. Die Wahl empfiehlt sich im besonderen, weil das sechzehnte Jahrhundert in England das seltene Glück hatte, in der Person des ,"judicious Hooker" einen glänzenden Beobachter der gnostischen Bewegung zu besitzen. Im Vorwort zu seiner Ecclesiastical Polity gab Hooker eine scharf gesehene Typenstudie des Puritaners sowie des psychologischen Mechanismus, mit dem die gnostischen Massenbewegungen arbeiten. Diese Ausführungen sind unschätzbar für das Verständnis der gnostischen Revolution. Unsere Analyse wird daher als erstes das Bild, das Hooker vom Puritaner gab, zusammenfassend aufzeigen. (Fs)

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