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Autor: Voegelin, Eric

Buch: Die neue Wissenschaft der Politik

Titel: Die neue Wissenschaft der Politik

Stichwort: Der Gnostizismus - das Wesen der Modernität 5; Gnosis, Scotus Eriugena; zivilisatorische Betätigung als Werk der Selbsterlösung; Pascal (divertissement); Nietzsche (Gnade Gottes); Comte: weltimmanentes Jüngstes Gericht

Kurzinhalt: Die gnostische Spekulation überwand die Ungewißheit des Glaubens dadurch, daß sie sich von der Transzendenz abwandte und den Menschen in seinem innerweltlichen Handlungsbereich mit dem Sinn einer eschatologischen Erfüllung ausstattete.

Textausschnitt: 5. Der Ablauf der Modernität

180a Diese Analyse der Komponenten in der modernen gnostischen Spekulation erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit, aber sie ist weit genug geführt worden für den unmittelbaren Zweck, die Erfahrungen zu verdeutlichen, welche die politische Artikulierung der westlichen Gesellschaft unter der Symbolik des Dritten Reiches bestimmen. Es zeichnet sich das Bild einer Gesellschaft ab, die als Einheit identifizierbar und verstehbar ist kraft ihrer Entwicklung zum Repräsentanten eines historisch einmaligen Typus gnostischer Wahrheit. Folgend dem aristotelischen Verfahren ging die Analyse von der Selbstinterpretation der Gesellschaft durch die joachitische Symbolik des zwölften Jahrhunderts aus. Jetzt, da ihr Sinn durch theoretisches Verstehen geklärt worden ist, kann ein Datum für den Anfang dieser Zivilisationsströmung festgelegt werden. Ein geeignetes Datum für ihren Beginn wäre die Aktivierung der antiken Gnosis durch Scotus Eriugena im neunten Jahrhundert, da seine Werke, ebenso wie die von ihm übertragenen Werke des Dionysius Areopagita, stetig die im Untergrund wirkenden gnostischen Sekten beeinflußten, bevor sie im zwölften und dreizehnten Jahrhundert an die Oberfläche kamen. (Fs)

181b Die gnostische Spekulation überwand die Ungewißheit des Glaubens dadurch, daß sie sich von der Transzendenz abwandte und den Menschen in seinem innerweltlichen Handlungsbereich mit dem Sinn einer eschatologischen Erfüllung ausstattete. In demselben Ausmaß, in dem diese Immanentisierung erlebnismäßig voranschritt, wurde die zivilisatorische Betätigung zu einem mystischen Werk der Selbsterlösung. Die geistige Kraft der Seele, die im Christentum der Heiligung des Lebens diente, konnte jetzt abgelenkt werden auf die verlockendere, greifbarere und vor allem weitaus leichtere Schaffung eines irdischen Paradieses. Die Zivilisationsleistung wurde zu einem divertissement im Sinne Pascals, jedoch einem divertissement, das die ewige Bestimmung des Menschen dämonisch in sich einsog und selbst an die Stelle des Lebens des Geistes trat. Nietzsche drückte die Natur dieser dämonischen Diversion aufs knappste durch die Frage aus, warum ein Mensch in dem peinlichen Zustand eines Wesens leben solle, das auf die Liebe und Gnade Gottes angewiesen sei. "Liebet euch selber aus Gnade - dann habt ihr euren Gott gar nicht mehr nötig, und das ganze Drama von Sündenfall und Erlösung spielt sich in euch selber zu Ende!" Wie aber kann dieses Wunder vollbracht werden, dieses Wunder der Selbsterlösung, und wie diese Erlösung durch die Gewährung der Gnade an sich selbst? Die große historische Antwort wurde von den sich ablösenden Typen gnostischer Aktion erteilt, die die moderne Kultur zu dem gemacht haben, was sie ist. Das Wunder wurde der Reihe nach vollbracht durch die literarische und künstlerische Leistung, die dem humanistischen Intellektuellen die Unsterblichkeit des Nachruhms sicherte, durch die Zucht und den wirtschaftlichen Erfolg, der dem puritanischen Heiligen seine Erlösung gewährleistete, durch die zivilisatorischen Beiträge der Liberalen und Fortschrittler und schließlich durch die revolutionäre Aktion, die das kommunistische oder ein anderes gnostisches Millenium errichten soll. Der Gnostizismus machte also auf äußerst wirksame Weise menschliche Kräfte frei für den Aufbau einer Zivilisation, indem er auf den begeisterten Einsatz dieser Kräfte für innerweltliche Betätigung die Prämie der Erlösung setzte. Das historische Resultat war erstaunlich. Die Kräfte und Fähigkeiten des Menschen, die unter solchem Druck zum Vorschein kamen, waren an sich schon eine Offenbarung, ihr Einsatz aber auf zivilisatorischem Gebiet brachte das wahrhaft großartige Schauspiel der westlichen progressiven Gesellschaft hervor. Wie töricht die oberflächlichen Argumente auch sein mögen - der weitverbreitete Glaube, die moderne Zivilisation sei die Zivilisation schlechthin, ist durch den Augenschein gerechtfertigt; dadurch daß er den Sinn der Erlösung an sich zog, wurde der Aufstieg des Westens in der Tat zu einer Apokalypse der Zivilisation. (Fs)

181a Das ist ein langer Zyklus von tausend Jahren, lange genug, um das Nachdenken über seinen Verfall und sein Ende anzuregen. Dieses Nachdenken über die westliche Gesellschaft als einen zyklischen Ablauf, der als eine Einheit in den Blick kommt, weil er sich erkennbar seinem Ende zubewegt, hat eine der dornigsten Fragen aufgeworfen, die je einen Betrachter der westlichen Politik geplagt haben. Einerseits setzt im achtzehnten Jahrhundert ein stetiger Strom von Literatur über den Niedergang der westlichen Zivilisation ein; und gleichgültig welcherlei Bedenken man gegen dieses oder jenes besondere Argument hegen mag, so läßt sich doch nicht leugnen, daß die Theoretiker des Untergangs im allgemeinen ihren Standpunkt vertreten können. Andererseits ist für die gleiche Periode kennzeichnend eine überschäumende, expansive Vitalität in den Naturwissenschaften, in der Technik, der materiellen Beherrschung der Umwelt, in der Zunahme der Bevölkerung, der Steigerung des Lebensstandards, der Gesundheit und des Wohlstandes, in der Ausdehnung der Erziehung der Massen, dem Wachsen des sozialen Bewußtseins und des Verantwortungsgeistes; und wiederum, was immer für Bedenken man im einen oder anderen der hier angeführten Punkte haben mag, kann man doch nicht leugnen, daß auch die Progressivisten ihren Standpunkt vertreten können. Dieser Widerspruch der Interpretationen hat die vorhin angedeutete dornige Frage im Gefolge, die Frage nämlich: wieso eine Zivilisation gleichzeitig aufsteigen und verfallen kann. Eine Betrachtung dieser Frage empfiehlt sich, weil es möglich erscheint, daß die Analyse des modernen Gnostizismus zumindest eine Teillösung des Problems ergeben wird. (Fs) (notabene)

183a Auf dieses apokalyptische Schauspiel fällt jedoch ein Schatten, da die glänzende Expansion von einer Gefahr begleitet wird, die mit dem Fortschritt zusehends anwächst. Die Natur dieser Gefahr wurde offenbar in der Form, die der Gedanke der immanenten Erlösung im Gnostizismus Comtes annahm. Der Begründer des Positivismus erhob die Prämie für zivilisatorische Leistungen zur Institution, indem er der Person und den Taten des Fortschrittspioniers Unsterblichkeit im Gedächtnis der Menschheit garantierte. Es wurden Ehrengrade der Unsterblichkeit eingerichtet, wobei die höchste Ehrung in der Aufnahme der verdienstvollen Persönlichkeit in den Kalender der positivistischen Heiligen bestand. Was würde aber in einer so beschaffenen Ordnung der Dinge mit denjenigen geschehen, die lieber Anhänger Gottes als des neuen Augustus Comte sein wollten? Solche Irrgläubige, die nicht gewillt waren, ihren sozialen Beitrag nach Comte'scher Norm zu leisten, würden in die Hölle des kollektiven Vergessens verstoßen werden. Dieser Gedanke verdient Beachtung. Hier ist ein gnostischer Paraklet, der sich selbst als das weltimmanente Jüngste Gericht der Menschheit einsetzt, das über Unsterblichkeit oder Vernichtung eines jeden Menschen entscheidet. Zwar schreitet die materielle Zivilisation des Westens noch immer voran, aber auf dieser ansteigenden Zivilisationsebene zeichnet die Fortschrittssymbolik von Leistung, Nachruhm und der Streichung aus der Geschichte die Konturen jenes "Abgrundes des Vergessens" ein, in welche die göttlichen Erlöser der gnostischen Reiche ihre Opfer mit einem Genickschuß stürzen lassen. Dieses Ende des Fortschritts war in den halkyonischen Tagen gnostischen Überschwangs nicht bedacht worden. Milton entließ Adam und Eva mit "einem Paradies in sich, weit glücklicher" als das verlorene; als sie aus ihm hervorgingen, "lag die ganze Welt vor ihnen" und die "Betrachtung des happy end" machte sie froh. Wenn aber der Mensch aus der Geschichte hervorgeht mit dem gnostischen "Paradies in sich", und wenn er in die vor ihm liegende Welt eindringt, so macht die Betrachtung des durchaus nicht glücklichen Endes nur wenig froh. (Fs)

184a Der Tod des Geistes ist der Preis des Fortschritts. Nietzsche offenbarte dieses Mysterium der westlichen Apokalypse, als er verkündete, daß Gott tot und daß er ermordet worden sei. Dieser gnostische Mord wird ständig von den Menschen begangen, die Gott der Zivilisation zum Opfer bringen. Je intensiver alle menschlichen Energien in das große Unternehmen der Erlösung durch welt-immanentes Handeln geworfen werden, desto mehr entfernen sich diejenigen, die an diesem Unternehmen mitwirken, vom Leben des Geistes. Und da das Leben des Geistes die Quelle der Ordnung im Menschen und in der Gesellschaft ist, liegt gerade im Erfolg einer gnostischen Zivilisation die Ursache ihres Verfalls. (Fs)

185a Eine Zivilisation kann also in der Tat gleichzeitig im Aufstieg und Niedergang begriffen sein - aber nicht für immer. Es gibt eine Grenze, auf die sich dieser zweideutige Vorgang hinbewegt. Diese Grenze wird erreicht, wenn eine aktivistische Sekte, welche die gnostische Wahrheit repräsentiert, die Zivilisation zu einem von ihr beherrschten Reich organisiert. Der Totalitarismus als existentielle Herrschaft gnostischer Aktivisten ist die Endform der progressiven Zivilisation. (Fs)

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