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Autor: Voegelin, Eric

Buch: Die neue Wissenschaft der Politik

Titel: Die neue Wissenschaft der Politik

Stichwort: Der Gnostizismus - das Wesen der Modernität 4b; (aktive) Gnosis, godded man, Übermensch; Säkularismus -> Radikalisierung d. parakletischen Immanentismus; Wesen d. Moderne: Anwachsen d. Gnostizismus; Szientismus

Kurzinhalt: Und schließlich mußte, nach dem ungeheuren Aufschwung, den die Naturwissenschaften seit dem siebzehnten Jahrhundert nahmen, dieses neue Mittel der Erkenntnis, man möchte sagen unvermeidlich, zum Symbolträger der gnostischen Wahrheit werden.

Textausschnitt: 176a Das richtige Verständnis dieser Erfahrungen als des aktiven Kernes der immanentistischen Eschatologie ist notwendig, weil andernfalls die innere Logik der westlichen politischen Entwicklung vom mittelalterlichen Immanentismus über den Humanismus, die Aufklärung, den Progressivismus, Liberalismus, Positivismus zum Marxismus verdunkelt wird. Die von den verschiedenen Typen von Immanentisten entwickelten Symbole werden häufig miteinander in Konflikt geraten und die verschiedenen Typen von Gnostikern einander bekämpfen. Man kann sich leicht vorstellen, wie entrüstet ein humanistischer Liberaler sein wird, wenn man ihm sagt, sein spezieller Typ des Immanentismus sei ein Schritt auf dem Wege zum Marxismus. Es wird darum nicht überflüssig sein, sich des Prinzips zu erinnern, daß die Substanz der Geschichte auf der Ebene der Erlebnisse, nicht auf der Ebene der Ideen zu finden ist. Der Säkularismus konnte als eine Radikalisierung der früheren Formen des parakletischen Immanentismus definiert werden, weil die erlebnismäßige Vergottung des Menschen im säkularistischen Fall radikaler ist. Feuerbach und Marx z. B. interpretieren den transzendenten Gott als die Projektion des Besten im Menschen auf ein hypostatisches Jenseits. Für sie würde daher die große Wende der Geschichte eintreten, wenn der Mensch seine Projektion in sich selbst zurückholt, wenn er sich bewußt wird, daß er selbst Gott ist, wenn der Mensch infolgedessen zum Übermenschen verklärt wird. Diese Marx'sche Verklärung ist tatsächlich die äußerste Steigerung eines weniger radikalen mittelalterlichen Erlebnisses, das den Geist Gottes in den Menschen hineinzieht, Gott selbst aber in seiner Transzendenz beläßt. Der Übermensch steht am Ende eines Weges, auf dem wir Gestalten wie dem "godded man" der englischen Reformationsmystiker begegnen. Diese Betrachtungen werden ferner die an früherer Stelle ausgesprochene Warnung vor einer Charakterisierung der modernen politischen Bewegungen als neuheidnisch rechtfertigen. Gnostische Erfahrungen bestimmen eine Struktur politischer Realität, die sui generis ist. Eine Linie allmählicher Umgestaltung verbindet den mittelalterlichen mit dem heutigen Gnostizismus. Diese Umgestaltung vollzieht sich so allmählich, daß es schwer wäre zu entscheiden, ob die Phänomene der Gegenwart als christlich zu klassifizieren sind, weil sie einsichtig aus christlichen Häresien des Mittelalters erwachsen, oder ob die Phänomene des Mittelalters als antichristlich zu klassifizieren sind, weil sie einsichtig der Ursprung des modernen Antichristentums sind. Das Beste wird sein, man läßt solche Fragestellungen beiseite und erkennt das Wesen der Modernität im Anwachsen des Gnostizismus. (Fs) (notabene)

178a Die Gnosis war von Anfang an eine Begleiterscheinung des Christentums; ihre Spuren finden sich schon bei Paulus und Johannes. Die gnostische Häresie war in den frühen Jahrhunderten der große Widersacher des Christentums;- und Irenäus hat einen kritischen Überblick über die Vielzahl ihrer Varianten in seiner Schrift Adversus Haereses (um 180 n. Chr.) gegeben - einem Standardwerk über den Gegenstand, das auch heute noch für jeden, der die modernen politischen Ideen und Bewegungen verstehen will, von Nutzen sein wird. Ferner gab es neben der christlichen noch eine jüdische, eine heidnische und eine islamische Gnosis; und es ist durchaus möglich, daß der gemeinsame Ursprung all dieser Zweige der Gnosis in einem Erlebnistypus zu suchen ist, der im vorchristlichen Bereich der syrischen Kultur vorherrschte. Nirgends hat jedoch die Gnosis die Form einer Spekulation über den Sinn der welt-immanenten Geschichte angenommen, wie sie dies im Hohen Mittelalter tat; die Gnosis führt nicht aus innerer Notwendigkeit zur Fehlkonstruktion der Geschichte, die seit Joachim für die Modernität charakteristisch ist. Es muß daher in dem Streben nach Gewißheit eine weitere Komponente enthalten sein, welche die Gnosis speziell auf die Spekulation über die Geschichte hinlenkt. Diese zusätzliche Komponente ist der kulturelle Ausdehnungsdrang der westlichen Gesellschaft im Hohen Mittelalter. Es ist ein Mündigwerden auf der Suche nach einem Sinn, ein Wissen um Wachstum, das sich nicht mehr als senescens im Augustinischen Sinne interpretiert sehen will. Tatsächlich folgte die autonome Sinngebung der westlichen Kultur unmittelbar auf ihre jeweilige Expansion und Differenzierung. Das geistige Wachsen des Westens durch die Orden seit Cluny fand in der joachitischen Spekulation in dem Gedanken eines Dritten Reiches der Mönche Ausdruck; der frühe philosophische und literarische Humanismus rückte sich in Dantes und Petrarcas Idee eines Apollinischen Imperiums aus, eines Dritten Reiches geistigen Lebens, das auf die imperialen, spiritualen und temporalen Ordnungen folgt; und im Zeitalter der Vernunft entwarf Condorcet die Idee einer vereinheitlichten Menschheitskultur, in der jedermann ein französischer Intellektueller sein würde.- Auch die Sozialträger der Bewegungen wechselten mit der Differenzierung und Artikulierung der westlichen Gesellschaft. In den frühen Phasen der Modernität waren es die Bürger und Bauern, die sich gegen die Feudalgesellschaft auflehnten; in den späteren Phasen waren es die fortschrittliche Bourgeoisie, die sozialistische Arbeiterschaft und das faschistische Kleinbürgertum. Und schließlich mußte, nach dem ungeheuren Aufschwung, den die Naturwissenschaften seit dem siebzehnten Jahrhundert nahmen, dieses neue Mittel der Erkenntnis, man möchte sagen unvermeidlich, zum Symbolträger der gnostischen Wahrheit werden. In der gnostischen Spekulation des Szientismus erreichte diese Variante ihr Extrem, als der positivistische Vollender der Wissenschaft die Ära Christi durch die Ara Comtes ersetzte. Der Szientismus ist bis zum heutigen Tage eine der stärksten gnostischen Bewegungen in der westlichen Gesellschaft, und der immanentistische Stolz auf die Wissenschaft ist so stark, daß sogar jede der Einzelwissenschaften ihren spezifischen Niederschlag gefunden hat in den Varianten des Heilswissens aus der Physik, der Wirtschaftswissenschaft, Soziologie, Biologie und Psychologie. (Fs) (notabene)

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