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Autor: Voegelin, Eric

Buch: Die neue Wissenschaft der Politik

Titel: Die neue Wissenschaft der Politik

Stichwort: Repräsentation und Wahrheit 7; Der repräsentative Charakter der Tragödie; Wirksamkeit der theoretischen Wahrheit; Aischylos

Kurzinhalt: Wunder einer Generation, welche die Verantwortung, die Wahrheit der Seele zu repräsentieren, individuell erfahren hatte

Textausschnitt: 7. Der repräsentative Charakter der Tragödie

104a Der Theoretiker ist der Repräsentant einer neuen Wahrheit, die mit der durch die Gesellschaft vertretene Wahrheit im Wettstreit liegt. Soviel steht fest. Es bleibt aber, wie es scheint, noch die Schwierigkeit übrig, daß die neue Wahrheit wenig Aussicht hat, sozial wirksam zu werden und die Gesellschaft nach ihrem Bilde zu gestalten, die Schwierigkeit der sozialpraktischen Sackgasse der Theorie. (Fs)

105a Diese Schwierigkeit existiert jedoch in Wirklichkeit nicht. Ihr Schein wurde durch Platons Enttäuschung über Athen hervorgerufen. Die Polis seiner Zeit war in der Tat zu keiner großen geistigen Reform mehr fähig - aber die Polis war nicht immer so steril gewesen, wie sie wirkt, wenn sich die Aufmerksamkeit auf ihren Widerstand gegen Sokrates und Platon konzentriert. Die platonisch-aristotelische Ausarbeitung der neuen Wahrheit stand am Ende einer langen Geschichte. Sie war das Werk athenischer Denker, die ihre theoretische Generalisierung wohl kaum ohne die vorhergehende Praxis der athenischen Politik erreicht hätten. Die paradigmatischen Konstruktionen des Platon und Aristoteles wären ihren Zeitgenossen als kuriose Phantasiegebilde erschienen, wenn das Athen von Marathon und die Tragödie nicht die lebendige Erinnerung einer ephemeren Repräsentanz der neuen Wahrheit gewesen wären. Hier hatte sich für eine goldene Stunde der Geschichte das Wunder einer bis hinunter zum Einzelbürger als repräsentierbarer Einheit artikulierten politischen Gesellschaft ereignet - das Wunder einer Generation, welche die Verantwortung, die Wahrheit der Seele zu repräsentieren, individuell erfahren hatte und dieser Erfahrung durch die Tragödie als öffentlichem Kult Ausdruck verlieh. Wir müssen eine solche Tragödie untersuchen, um den neuen Repräsentationstypus zu verstehen; diesem Zweck dient am besten Aischylos mit den Schutzflehenden. (Fs)

105b Die Handlung der Schutzflehenden dreht sich um ein Rechtsproblem und dessen Lösung durch politische Aktion. Die Töchter des Danaos kommen auf ihrer Flucht aus Ägypten mit ihrem Vater nach Argos, weil die Söhne des Aigyptos sie zu einer nicht gewünschten Heirat zwingen wollen. In Argos, der Heimat ihrer Ahnfrau Io, hoffen sie Asyl zu finden. Pelasgos, der König von Argos, tritt auf und der Fall wird ihm von den Flüchtlingen vorgetragen. Sofort erkennt er das Dilemma: entweder muß er das Asyl verweigern, die Schutzflehenden den schon nahenden ägyptischen Verfolgern überlassen und damit die Rache des Zeus auf sich ziehen, oder er wird in einen Krieg mit den Ägyptern verwickelt, der im besten Fall für seine Polis eine kostspielige Angelegenheit sein wird. Er stellt die Alternative fest: "Ohne Schaden weiß ich nicht, wie ich euch helfen soll. Und dennoch ist es wiederum nicht ratsam, über solches Schutzflehen hinwegzugehen." Offen beschreibt er seinen Zustand als den verwirrter Unentschlossenheit. Seine Seele ist von der Furcht ergriffen, "zu handeln oder nicht zu handeln und hinzunehmen, was das Schicksal bringt". (Fs)

106a Die Entscheidung ist nicht leicht. Nach dem Gesetz, dem nomos ihres Landes, haben die unglücklichen Mädchen kein Recht, sich den Ägyptern, die sie zur Ehe begehren, zu verweigern; aber sie erinnern den König daran, daß es eine höhere Gerechtigkeit, die dike, gibt, daß die Ehe ihnen zuwider und daß Zeus der Gott der Schutzflehenden ist. Einerseits wird der König ermahnt, Dike bei der Entscheidung des Falles zur Verbündeten zu nehmen; andererseits muß er die Interessen der argivischen Polis berücksichtigen. Wenn er seine Stadt in einen Krieg verwickelt, wird man ihm vorwerfen, daß er Ausländern auf Kosten seines Landes hilft; wenn er die Schutzflehenden im Stich läßt, werden seine Kinder und sein Haus Maß für Maß für die Verletzung der Dike bezahlen müssen. Ernsthaft bedenkt er: "Tiefer, rettender Rat ist nötig, wie eines Tauchers, der in die Tiefe hinabsteigt mit scharfem Blick, ohne sich verwirren zu lassen." Wir werden an das heraklitische "Tiefenwissen" erinnert, an die Vorstellung von der Seele, deren Grund nicht erreicht werden kann, weil ihr Logos zu tief ist. Die Verse des Aischylos übertragen die heraklitische Vorstellung der Tiefe in die Aktion des Hinabsteigens. (Fs)

107a An dieser Stelle tritt jedoch das Problem der konstitutionellen Regierung als komplizierender Faktor hinzu. Was die Person des Königs betrifft, so ergibt das Hinabsteigen in die Tiefe das gewünschte Urteil zugunsten der Schutzflehenden. Aber Pelasgus ist ein konstitutioneller König und nicht ein Tyrann. Das Volk, der demos, der die Last des unvermeidlichen Krieges wird tragen müssen, ist zu befragen und seine Zustimmung einzuholen. Der König verläßt die Schutzflehenden, um das Volk zusammenzurufen und den Fall der Volksversammlung, dem koinon, zu unterbreiten. Er will versuchen, sie zu überzeugen, auf daß sie der Entscheidung, die er in seiner Seele getroffen hat, zustimmen. Die Rede des Fürsten hat Erfolg: Die entsprechenden Beschlüsse, die psephismata, werden einstimmig gefaßt. Das Volk geht auf das Argument der geschmeidig gefügten Rede ein, indem es das Hinabsteigen des Königs in die Tiefe der Seele mitvollzieht. Die Peitho, das Überreden des Königs, formt die Seelen seiner Zuhörer, die bereit sind, sich formen zu lassen, und läßt die Dike des Zeus gegen die Leidenschaft obsiegen, so daß die gereifte Entscheidung die Wahrheit des Gottes repräsentiert. Der Chor faßt die Bedeutung des Ereignisses in der Zeile zusammen: "Zeus ist es, der das Ende geschehen läßt."1 (Fs)

108a Die Tragödie war ein öffentlicher Kult - und ein sehr kostspieliger. Als ihr Publikum setzte sie ein Volk voraus, das der Vorstellung mit wachem Sinn für das tua res agitur folgte. Es würde den Sinn der Handlung, des Dramas, als ein Handeln aus Gehorsam zur Dike zu erkennen und die Flucht in den leichten Ausweg als ein Nicht-Handeln anzusehen haben. Es würde die athenische Prostasia als die Organisation eines Volkes unter einem Führer verstehen müssen - in welcher der Führer versucht, die Dike des Zeus zu repräsentieren, und seine Überzeugungskraft einsetzt, um bei konkreten Entscheidungen im Volk den gleichen Seelenzustand hervorzubringen, während das Volk willens ist, einer solch überzeugenden Führung in der Repräsentation der Wahrheit zu folgen, bis zur Tat im Kampf gegen eine dämonisch ungeordnete Welt, wie sie in den Schutzflehenden durch die Agypter symbolisiert wird. Die Tragödie ist in ihrer großem Zeit eine Liturgie, in der die große Entscheidung zugunsten der Dike erneuernd wiederholt wird. Wenn auch das Publikum keine Versammlung von Helden ist, so müssen die Zuschauer doch zumindest gewillt sein, die tragische Handlung als paradigmatisch anzusehen; die heroische Seelenerforschung und das Erleiden der Folgen muß als gültiger Anruf empfunden werden; das Schicksal des Helden muß in der Seele des Zuschauers das Erschauern des eigenen Schicksals erregen. Die Bedeutung der Tragödie als öffentlicher Kult liegt in ihrem stellvertretenden Leiden.2 (Fs)

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