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Autor: Voegelin, Eric

Buch: Die neue Wissenschaft der Politik

Titel: Die neue Wissenschaft der Politik

Stichwort: Repräsentation und Wahrheit 6; Platon: Autorität der theoretischen Wahrheit: Psyche als Ort der Transzendenz; periagoge; Theologie

Kurzinhalt: ... im Gegensatz zur protagoräischen "Der Mensch ist das Maß; Xenophanes : universale Idee vom Menschen durch die Erfahrung der universalen Transzendenz.

Textausschnitt: 6. Die Autorität der theoretischen Wahrheit

99b So kurz und unvollständig diese Andeutungen auch sind, sollten sie doch ausreichen, um an die Erfahrungstypen zu erinnern, welche der Theorie im platonisch-aristotelischen Sinne als Basis dienen. Wir müssen jetzt weiter feststellen, wann sie zu Trägern einer Wahrheit über die menschliche Existenz, im Wettstreit mit der Wahrheit der älteren Mythen, wurden und wann der Theoretiker, als Repräsentant dieser Wahrheit, imstande war, seine eigene Autorität der gesellschaftlichen entgegenzustellen. (Fs)

100a Die Antwort auf diese Frage muß in der Natur der aufgezählten Erfahrungen gesucht werden. Die Entdeckung der neuen Wahrheit ist nicht eine Bereicherung des psychologischen Wissens im immanentistischen Sinne; man müßte vielmehr sagen, daß die Psyche selbst als ein neues Zentrum im Menschen entdeckt wird, in welchem er sich als aufgeschlossen für transzendente Realität erfährt. Ferner wird dieses Zentrum nicht so entdeckt, als ob es ein von jeher präsentes Objekt wäre, das lediglich der Aufmerksamkeit entgangen war. Vielmehr muß die Psyche als der Bereich, in welchem Transzendenz erfahren wird, aus einer kompakteren Struktur der Seele herausdifferenziert, entwickelt und benannt werden. Wenn man das Problem der Kompaktheit und Differenzierung einklammert, so könnte man beinahe sagen, daß vor der Entdeckung der Psyche der Mensch keine Seele besaß. Es handelt sich um eine Entdeckung, die ihr Erfahrungsmaterial zusammen mit seiner Auslegung schafft. Das Aufgeschlossensein der Seele wird erfahren durch das Öffnen der Seele selbst. Dieses Öffnen, das ebensosehr Aktion wie Passion ist, verdanken wir dem Genius der mystischen Philosophen. (Fs) (notabene)

100b Diese Erfahrungen werden zur Quelle einer neuen Autorität, denn durch das Öffnen der Seele findet sich der Philosoph in einer neuen Beziehung zu Gott. Nicht nur entdeckt er seine eigene Psyche als das Instrument der Erfahrung von Transzendenz, sondern zugleich auch die Gottheit in ihrer radikalen nichtmenschlichen Transzendenz. Die Differenzierung der Psyche ist daher nicht zu trennen von einer neuen Wahrheit über Gott. Die wahre Ordnung der Seele kann zum Maßstab für menschliche Typen wie auch Typen der Gesellschaftsordnung werden, weil sie die Wahrheit über menschliche Existenz an der Grenze der Transzendenz repräsentiert. Der Sinn des anthropologischen Prinzips muß daher qualifiziert werden durch die Einsicht, daß nicht eine willkürliche Idee vom Menschen als einem weit-immanenten Wesen zum Instrument gesellschaftlicher Kritik wird, sondern die Idee des Menschen, der seine wahre Natur entdeckt hat durch die Entdeckung seiner wahren Beziehung zu Gott. Das neue Maß, das für die Gesellschaftskritik gefunden wird, ist nicht der Mensch schlechthin, sondern der Mensch, sofern er durch die Differenzierung seiner Psyche zum Repräsentanten der göttlichen Wahrheit geworden ist. (Fs) (notabene)

100b Diese Erfahrungen werden zur Quelle einer neuen Autorität, denn durch das Öffnen der Seele findet sich der Philosoph in einer neuen Beziehung zu Gott. Nicht nur entdeckt er seine eigene Psyche als das Instrument der Erfahrung von Transzendenz, sondern zugleich auch die Gottheit in ihrer radikalen nichtmenschlichen Transzendenz. Die Differenzierung der Psyche ist daher nicht zu trennen von einer neuen Wahrheit über Gott. Die wahre Ordnung der Seele kann zum Maßstab für menschliche Typen wie auch Typen der Gesellschaftsordnung werden, weil sie die Wahrheit über menschliche Existenz an der Grenze der Transzendenz repräsentiert. Der Sinn des anthropologischen Prinzips muß daher qualifiziert werden durch die Einsicht, daß nicht eine willkürliche Idee vom Menschen als einem weit-immanenten Wesen zum Instrument gesellschaftlicher Kritik wird, sondern die Idee des Menschen, der seine wahre Natur entdeckt hat durch die Entdeckung seiner wahren Beziehung zu Gott. Das neue Maß, das für die Gesellschaftskritik gefunden wird, ist nicht der Mensch schlechthin, sondern der Mensch, sofern er durch die Differenzierung seiner Psyche zum Repräsentanten der göttlichen Wahrheit geworden ist. (Fs) (notabene)

101a Um der theoretischen Interpretation der Gesellschaft zu dienen, muß daher das anthropologische Prinzip durch ein zweites Prinzip ergänzt werden. Platon handelte gemäß dieser Einsicht, als er seine Formel "Gott ist das Maß" im Gegensatz zur protagoräischen "Der Mensch ist das Maß" schuf. Mit der Formulierung dieses Prinzips zog Platon die Summe einer langen Vorgeschichte. Schon sein Vorfahre Solon war auf der Suche nach jener Wahrheit gewesen, die den Parteien Athens autoritativ auferlegt werden könnte, und seufzend hatte er gestanden: "Es ist schwer, das unsichtbare Maß des rechten Urteils zu kennen; und doch birgt es allein die rechte Begrenzung aller Dinge." Als Staatsmann lebte Solon in der Spannung zwischen dem unsichtbaren Maß und der Notwendigkeit, es in der Eunomie der Gesellschaft Fleisch werden zu lassen; denn einerseits sprach er: "Der Sinn der Unsterblichen ist den Menschen verborgen", andererseits aber: "Auf Geheiß der Götter habe ich getan, was ich tat." Heraklit, der immer als der große Schatten hinter den Gedanken Platons steht, drang dann tiefer in die zum unsichtbaren Maß führenden Erfahrungen ein. Er erkannte dessen allesbeherrschende Gültigkeit: "Die unsichtbare Harmonie ist besser (oder: größer, mächtiger) als die sichtbare." Aber die unsichtbare Harmonie ist schwer zu erlangen und kann überhaupt nur erlangt werden, wenn die Seele von einem erwartungsvollen Drängen auf das rechte Ziel zu erfaßt ist: "Wenn ihr nicht hofft, werdet ihr das Ungehoffte nicht finden, denn es ist schwer zu finden und der Weg zu ihm nahezu ungangbar." Ferner: "Durch Unglauben (apistie) entgeht einem die Erkenntnis des Göttlichen(?)." Schließlich hat Platon die Kritik des Xenophanes an der unstatthaften Symbolisierung der Götter aufgenommen. Solange die Menschen Götter nach ihrem Bilde schaffen-dies ist das Argument des Xenophanes-, muß die wahre Natur des einen Gottes, der "der Größte unter Göttern und Menschen ist und an Körper und Geist den Sterblichen nicht gleicht", verborgen bleiben. Und nur wenn dieser eine Gott in seiner gestaltlosen Transzendenz als derselbe Gott für jeden Menschen erkannt wird, wird die Natur aller Menschen als gleich zu erkennen sein kraft der Gleichheit ihrer Beziehung zur transzendenten Gottheit. Von allen früh-griechischen Denkern hatte Xenophanes wohl die klarste Einsicht in die Konstitution einer universalen Idee vom Menschen durch die Erfahrung der universalen Transzendenz. (Fs) (notabene)

103b Die Wahrheit des Menschen und die Wahrheit Gottes sind unlösbar eines. Der Mensch wird in der Wahrheit seiner Existenz sein, wenn er seine Psyche der Wahrheit Gottes geöffnet hat; und die Wahrheit Gottes wird in der Geschichte offenbar werden, wenn sie die menschliche Psyche zur Empfänglichkeit für das unsichtbare Maß geformt hat. Das ist das große Thema der Politeia Platons. In den Mittelpunkt des Dialoges stellt Platon das Höhlengleichnis mit seiner Beschreibung der periagoge, der Umkehr, der Abwendung von der Unwahrheit der menschlichen Existenz, wie sie in der sophistischen Gesellschaft Athens herrschte, und der Hinwendung zur Wahrheit der Idee. Weiter war nach Platons Dafürhalten der beste Weg zur Sicherung der existentiellen Wahrheit eine angemessene Erziehung von früher Kindheit an. Aus diesem Grunde forderte er in Politeia II, daß unstatthafte Symbolisierungen der Götter, wie sie sich bei den Dichtern fanden, aus der Jugenderziehung auszuschalten und durch gebührende Symbole zu ersetzen seien. In diesem Zusammenhang entwickelte er das technische Vokabular zur Behandlung solcher Probleme. Um von den verschiedenen Symbolisierungstypen sprechen zu können, prägte er den Ausdruck "Theologie" und nannte sie Typen der Theologie, typoi peri theologias. Im gleichen Zusammenhang stellte Platon ferner die gnoseologische Komponente des Problems heraus. Wenn die Seele in ihrer Jugend dem falschen Typus der Theologie ausgesetzt ist, wird sie in ihrem entscheidenden Punkt, dort wo sie von der Natur Gottes weiß, irregeleitet werden. Sie wird der "Erzlüge", dem alethos pseudos, einer Fehlkonzeption über die Götter zum Opfer fallen. Diese Lüge ist nicht eine Alltagslüge, für die es mildernde Umstände geben mag. Sie ist die Grundlüge der "Ignoranz, der agnoia, im Bereich der Seele". Wendet man nun die platonische Terminologie an, so könnte man sagen, daß in einer theoretischen Interpretation der Gesellschaft das anthropologische Prinzip das theologische als sein Korrelat erfordert. Die Gültigkeit der von Platon und Aristoteles entwickelten Maßstäbe beruht auf der Vorstellung von einem Menschen, der das Maß der Gesellschaft sein kann, weil Gott das Maß seiner Seele ist. (Fs)

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