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Autor: Voegelin, Eric

Buch: Die neue Wissenschaft der Politik

Titel: Die neue Wissenschaft der Politik

Stichwort: Repräsentation und Wahrheit 2; Gesellschaft als Repräsentant kosmischer Ordnung; Achaemeniden, Darius I.; Brief des Kuyuk Khan an Papst Innozenz IV; Dschingis-Khan

Kurzinhalt: Die vom Theoretiker vertretene Wahrheit wurde einer von der Gesellschaft vertretenen entgegengesetzt. Ist diese Gegenüberstellung sinnvoll? Gibt es wirklich so etwas wie Repräsentation der Wahrheit in den politischen Gesellschaften?

Textausschnitt: 2. Die Gesellschaft als Repräsentant kosmischer Ordnung

83a Gewiß können diese Fragen nicht alle auf einmal beantwortet werden. Ihre Aufzählung sollte jedoch erkennen lassen, wie verwickelt die theoretische Situation ist. Die Analyse wird sich zweckmäßigerweise auf den Punkt konzentrieren, an dem die Fragen unserem Thema am nächsten kommen, d. h. auf die Fragen betreffend den Wahrheitskonflikt. Die vom Theoretiker vertretene Wahrheit wurde einer von der Gesellschaft vertretenen entgegengesetzt. Ist diese Gegenüberstellung sinnvoll? Gibt es wirklich so etwas wie Repräsentation der Wahrheit in den politischen Gesellschaften? Wenn dies der Fall sein sollte, dann wäre das Repräsentationsproblem durch die Repräsentation im existentiellen Sinne nicht erschöpft. Dann würde zu unterscheiden sein zwischen der Repräsentation einer Gesellschaft durch ihre existentiellen Repräsentanten, und einer zweiten Relation, in welcher die Gesellschaft selbst etwas, das über sie hinausgeht, eine transzendente Wirklichkeit, repräsentiert. Ist eine solche Relation in den historischen Gesellschaften konkret vorhanden? (Fs)

84b Man stößt in der Tat auf sie, in der Geschichte der größeren, über Stammeseinheiten hinausgehenden Gesellschaften bis zurück zu ihren Anfängen. Alle frühen Reiche des Nahen wie des Fernen Ostens faßten sich als Repräsentanten einer transzendenten Ordnung, der Ordnung des Kosmos auf, und einige unter ihnen verstanden diese Ordnung als eine "Wahrheit". Ob man sich den frühesten chinesischen Quellen im Shu-ching oder den ägyptischen, babylonischen, assyrischen oder persischen Inschriften zuwendet, überall wird die Ordnung des Reiches als Repräsentation der kosmischen Ordnung in dem Medium der menschlichen Gesellschaft interpretiert. Das Reich ist ein kosmisches Analogon, ein Mikrokosmos als Spiegel des allumfassenden Makrokosmos. Herrschaft wird zur Aufgabe, die Gesellschaftsordnung in Einklang mit der kosmischen Ordnung zu bringen. Das Territorium des Reiches repräsentiert analogisch die Welt mit ihren vier Himmelsrichtungen; die großen Zeremonien des Reiches repräsentieren den Rhythmus des Kosmos; Feste und Opferfeiern sind eine kosmische Liturgie, eine symbolische Teilnahme des Kosmion am Kosmos; und der Herrscher selbst repräsentiert die Gesellschaft, weil er auf Erden die transzendente Macht repräsentiert, die die kosmische Ordnung aufrechthält. Der Ausdruck "Kosmion" gewinnt damit die zusätzliche Bedeutungskomponente des Repräsentanten des Kosmos. (Fs) (notabene)

84a Ein Ordnungsunternehmen dieser Art stößt auf den Widerstand innerer und äußerer Feinde; der Herrscher kann in seiner menschlichen Begrenzung durch äußere Umstände oder durch eigene schlechte Führung Rückschläge erleiden, die zu inneren Umwälzungen und äußeren Niederlagen führen. Die Erfahrungen des Widerstandes sind nun die Gelegenheiten, bei denen der Sinn der Wahrheit deutlicher in den Blick kommt. Insofern als die Gesellschaftsordnung nicht automatisch existiert, sondern begründet, bewahrt und verteidigt werden muß, gelten alle, die sich auf der Seite der Ordnung befinden, als Repräsentanten der Wahrheit, während ihre Feinde die Unordnung und Unwahrheit repräsentieren. (Fs)

84b Diese Stufe der Selbstinterpretation eines Reiches wurde von den Achaemeniden erreicht. Die Inschrift von Behistun, die die Großtaten Darius I. verherrlicht, bezeichnet den König als Sieger, weil er als rechtschaffenes Werkzeug Ormuzds handelte. Er "war kein Böser noch ein Lügner", weder er noch seine Familie huldigten Ahriman, der Lüge, sondern sie waren "rechtliche Herrscher"1. Was jedoch die Feinde anbetrifft, so versichert uns die Inschrift, daß "die Lüge sie rebellisch machte, so daß sie das Volk hintergingen. Daher übergab Ormuzd sie in meine Hände"2. Die Ausdehnung des Reiches und die Unterwerfung seiner Feinde werden in dieser Vorstellungswelt zur Errichtung eines irdischen Friedensreiches durch den König, der als Repräsentant des göttlichen Herrn der Weisheit handelt. Darüber hinaus verästelt sich die Auffassung bis in das Ethos des politischen Verhaltens. Die Rebellen gegen die Wahrheit sind zwar als solche vor allem erkennbar an ihrem Widerstand gegen den König, aber außerdem sind sie als die Repräsentanten der Lüge erkenntlich an der Lügenpropaganda, die sie verbreiten, um das Volk irrezuführen. Dem König hingegen obliegt die Pflicht, sich in seinen Äußerungen genauestens an die Wahrheit zu halten. Die Inschrift von Behistun enthält folgenden eindrucksvollen Passus: "Durch Ormuzds Gnade war es mir vergönnt, noch viele Dinge zu tun, die nicht hier eingemeißelt sind. Sie wurden nicht erwähnt, damit dem zukünftigen Leser meine Taten nicht allzu groß erscheinen mögen, so daß er sie nicht glauben, sondern für Lügen halten würde."3 Nicht die geringste Übertreibung ist dem Repräsentanten der Wahrheit gestattet, er muß im Gegenteil seine Taten verkleinern. (Fs)

86a Angesichts eines so betont tugendhaften Verhaltens beginnt man sich zu fragen, was wohl die Gegenseite sagen würde, wenn sie die Möglichkeit hätte, sich zu äußern. Es wäre interessant zu wissen, welcher Art Höflichkeiten ausgetauscht würden, wenn zwei oder mehr solcher Repräsentanten der Wahrheit in Wettbewerb um die Errichtung der einen wahren Ordnung der Menschheit träten. Es liegt in der Natur der Sache, daß ein solcher Zusammenstoß sich nur selten ereignet, aber immerhin gibt es einen lehrreichen Fall im Verlauf der Mongolenzüge, die im 13. Jahrhundert das Westreich auszulöschen drohten. Sowohl der Papst als auch der König von Frankreich schickten damals Gesandte an den mongolischen Hof, welche die Absichten der gefährlichen Eroberer erkunden und ganz allgemein Verbindungen anknüpfen sollten. Die Noten, die den Gesandten mitgegeben wurden, wie auch ihre persönlichen Vorstellungen müssen wohl Klagen über die mongolischen Greueltaten in Osteuropa enthalten haben, ferner Kommentare betreffend die Unsittlichkeit solchen Verhaltens, insbesondere wenn die Opfer Christen waren, und sogar die Forderung, die Mongolen sollten die Taufe empfangen und sich der Autorität des Papstes unterwerfen. Die Mongolen erwiesen sich jedoch als Meister der politischen Theologie. In einem erhaltenen Brief des Kuyuk Khan an Papst Innozenz IV4. werden die Vorstellungen der Gesandten genauestens beantwortet. Eine Stelle daraus lautet: (Fs)

Ihr habt gesagt, es wäre gut, daß ich die Taufe empfange; du hast es mich selbst wissen lassen, und hast mir die Bitte geschickt.
Diese deine Bitte habe ich nicht zur Kenntnis genommen.
Ein anderer Punkt: Ihr habt uns die Worte geschickt, "Ihr habt die Reiche der Magyaren und der Christen insgesamt genommen; darüber verwundere ich mich. Sagt uns, was haben diese für eine Schuld?"
Auch diese deine Worte haben wir nicht zur Kenntnis genommen. (Fs)

(Um jedoch jeglichen Anschein zu vermeiden, als würden wir diesen Punkt stillschweigend übergehen, antworten wir euch folgendes):
Den Befehl Gottes haben Dschingis-Khan und der Kha-Khan alle beide geschickt, um sie kund zu machen.
Aber dem Befehl Gottes haben sie nicht geglaubt.
Sie, von denen dein Wort, haben sogar großen Rat gehalten. Sie zeigten sich hochfahrend und töteten unsere Gesandten. Der ewige Gott hat in diesen Reichen die Männer getötet und vernichtet.
Wie könnte jemand, nur aus eigener Kraft, ohne den Befehl Gottes, töten, wie könnte er nehmen? (Fs)

Und wenn du sagst: "Ich bin Christ, ich bete Gott an, ich verachte die andern",
Wie weißt du, wem Gott vergibt, und wem er Barmherzigkeit zuwendet? Wie weißt du es, daß du solche Worte sprichst? (Fs)

Aus der Kraft Gottes
wurden alle Reiche vom Aufgang der Sonne bis zum Untergang uns verliehen.
Ohne den Befehl Gottes,
Wie könnte einer irgend etwas tun?
Jetzt müßt ihr aufrichtigen Herzens sagen:
"Wir wollen untertan sein,
wir geben unsere Kraft."
Du in Person, an der Spitze der Könige, alle zusammen, ohne Ausnahme, kommt uns Dienst und Huldigung zu bringen; dann werden wir eure Unterwerfung anerkennen. Und wenn ihr dem Befehl Gottes nicht gehorcht
und unserem Befehl zuwiderhandelt,
dann wissen wir euch unseren Feind. (Fs)

Das tun wir euch kund;
wenn ihr zuwiderhandelt,
was wissen dann wir?
Gott weiß es.5 (Fs)
88a Diese Begegnung zwischen Wahrheit und Wahrheit hat vertrauten Klang. Und er wird noch vertrauter, wenn einige Folgerungen der mongolischen Rechtstheorie berücksichtigt werden. Der Auftrag Gottes, auf den sich die Errichtung des Mongolenreiches gründete, ist in den Edikten des Kuyuk Khan und des Mangu Khan erhalten: (Fs)

Im Auf trag des lebendigen Gottes
sagt Dschingis-Khan, der süße und ehrwürdige Sohn Gottes:
Gott ist hoch über allem, Er, Er selbst, der unsterbliche Gott, Und auf Erden ist Dschingis-Khan der einzige Herr.6

89a Das Reich, in dem Dschingis-Khan der Herr ist, existiert de jure, selbst wenn es de facto noch nicht verwirklicht ist. Kraft des Gottesauftrags sind alle menschlichen Gesellschaften Teile des Mongolenreiches, selbst wenn sie noch nicht erobert sind. Die tatsächliche Expansion des Reiches erfolgt nach einem genau festgelegten Rechtsverfahren. Gesellschaften, die an der Reihe sind, in das Reich eingegliedert zu werden, müssen durch Gesandte von dem Auftrag Gottes in Kenntnis gesetzt und zur Unterwerfung aufgefordert werden. Wenn sie sich weigern oder etwa die Gesandten töten, dann sind sie Rebellen und es werden militärische Sanktionen gegen sie verhängt. Das Mongolenreich hat somit nach seiner eigenen Rechtsordnung niemals einen Krieg geführt, sondern lediglich Strafexpeditionen gegen rebellische Untertanen des Reiches unternommen.7 (Fs) (notabene)

89b Es wird jetzt wohl klar geworden sein, daß die Inschriften von Behistun und die Mongolenbefehle nicht als Kuriositäten aus einer weit zurückliegenden Vergangenheit zu betrachten sind, sondern als Beispiele eines politischen Ordnungsprinzips, das zu jeder Zeit, und besonders in unserer eigenen, auftreten kann. Das Selbstverständnis einer Gesellschaft als Repräsentant kosmischer Ordnung rührt aus dem Zeitalter der kosmologischen Reiche, in dem es erstmals greifbar wird, ist aber nicht auf dieses beschränkt. Die kosmologische Repräsentation lebt nicht nur in den kaiserlichen Symbolen des westlichen Mittelalters oder kontinuierlich bis in das China des zwanzigsten Jahrhunderts weiter. Ihr Prinzip ist auch dort erkennbar, wo die zu repräsentierende Wahrheit auf ganz andere Weise symbolisiert wird. In der Marx'schen Dialektik zum Beispiel wird die Wahrheit der kosmischen Ordnung durch die Wahrheit einer historisch immanenten Ordnung ersetzt. Dennoch ist die kommunistische Bewegung der Repräsentant dieser auf andere Weise symbolisierten Wahrheit in dem selben Sinn, in dem ein Mongolenkhan der Repräsentant der im Auftrag Gottes enthaltenen Wahrheit war, und das Bewußtsein dieser Repräsentation führt zu der gleichen politischen und juristischen Konstruktion wie in den anderen Fällen imperialer Repräsentation der Wahrheit. Ihre Ordnung ist im Einklang mit der Wahrheit der Geschichte; ihr Ziel ist die Etablierung eines Reiches der Freiheit und des Friedens; die Gegner widersetzen sich der Wahrheit der Geschichte und werden letztlich besiegt werden; kein Land kann sich legitim mit der Sowjetunion im Krieg befinden, sondern muß Repräsentant des Unwahren in der Geschichte sein oder, nach heutigem Sprachgebrauch, ein Aggressor; und die Opfer werden nicht erobert, sondern von ihren Unterdrückern und damit von der Unwahrheit ihrer Existenz befreit. (Fs) (notabene)

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