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Autor: Voegelin, Eric

Buch: Die neue Wissenschaft der Politik

Titel: Die neue Wissenschaft der Politik

Stichwort: Max Weber: Standard d. Objektivität; Ordnungswahrheiten als historische Tatsachen; Mittelalter - Religionssoziologie

Kurzinhalt: Man kann sich kaum ernsthaft mit dem Studium des mittelalterlichen Christentums befassen, ohne unter seinen "Werten" den Glauben an eine rationale Wissenschaft von der menschlichen und sozialen Ordnung und vor allem vom Naturrecht zu entdecken. Ja ...

Textausschnitt: 39a Weber kümmerte sich nicht um die theoretischen Schwierigkeiten, in die sein Vorgehen ihn verwickelte. Wenn die "objektive" Untersuchung historischer Prozesse z. B. ergab, daß die materialistische Geschichtsauffassung falsch war, dann gab es offenbar einen Standard der Objektivität, nach dem die Konstitution des Gegenstandes der Wissenschaft durch die "Beziehung" von Tatsachen und Problemen auf den "Wert" eines Marxisten nicht zulässig war; oder - um es ohne methodologischen Jargon zu sagen - ein Gelehrter durfte nicht Marxist sein. Wenn, aber die kritische Objektivität es einem Wissenschaftler verbot, Marxist zu sein, konnte dann überhaupt irgend jemand Marxist sein, ohne die Rationalität aufzugeben, zu der er als verantwortlicher Mensch verpflichtet war? Auf solche Fragen finden sich in Webers Werk keine Antworten. Die Zeit war noch nicht gekommen, in der man klipp und klar hätte aussprechen dürfen, der "historische Materialismus" sei nicht eine Theorie; sondern eine Verfälschung der Geschichte, oder ein "materialistischer" Interpret der Politik sei ein Ignorant. der die Elemente der Wissenschaft nicht beherrsche. Als zweite Komponente in der "Dämonie" der Werte beginnt sich, von Weber nicht als solche erkannt, eine kräftige Portion von Unwissenheit herauszustellen; und der politische Intellektuelle, der "dämonisch" die Entscheidung für seinen Wert trifft, nimmt bedenklich die Gestalt eines größenwahnsinnigen Ignoranten an. Es scheint fast, daß "Dämonie" eine Eigenschaft ist, die ein Mensch im umgekehrten Verhältnis zum Radius seines relevanten Wissens besitzt. (Fs)

40a Der gesamte Ideenkomplex - von "Werten", "Wertbeziehung", "Werturteilen" und "wertfreier Wissenschaft" -schien in Auflösung begriffen zu sein. Weber hatte eine "Objektivität" der Wissenschaft wiedergewonnen, die sich offensichtlich nicht mehr in das Schema der methodologischen Debatte einfügte. Und trotzdem. konnten nicht einmal seine religionssoziologischen Studien ihn bewegen, den entscheidenden Schritt auf eine Ordnungswissenschaft hin zu tun. Der letzte Grund seines Zögerns, wenn nicht seiner Furcht, bleibt undurchsichtig im Werk; aber der Punkt, an dem er Halt machte, ist klar erkennbar. Seine religionssoziologischen Studien haben, abgesehen von anderen Gründen, immer als eine tour de forte Bewunderung hervorgerufen. Die Fülle des Materials, das er in diesen umfangreichen Studien über den Protestantismus, den Konfuzianismus, den Taoismus, den Hinduismus, Buddhismus, Jainismus und das Judentum, die noch durch eine Abhandlung über den Islam vervollständigt werden sollten, verarbeitete, ist in der Tat achtunggebietend. Angesichts einer so gewaltigen Leistung ist vielleicht nicht genügend beachtet worden, daß die Reihe dieser Untersuchungen ihren Gesamtton von einem bezeichnenden Verzicht empfängt - von dem Verzicht auf das vorreformatorische Christentum. Der Grund für diese Auslassung dürfte durch die folgende Überlegung klar werden: Man kann sich kaum ernsthaft mit dem Studium des mittelalterlichen Christentums befassen, ohne unter seinen "Werten" den Glauben an eine rationale Wissenschaft von der menschlichen und sozialen Ordnung und vor allem vom Naturrecht zu entdecken. Ja noch mehr: Diese Wissenschaft war nicht nur eine Sache des "Glaubens", daß sie geschaffen werden könnte, sie war in der Tat als ein Werk der Vernunft durchgearbeitet vorhanden. Hier wäre Weber auf das Faktum der Ordnungswissenschaft gestoßen, ebenso wie er darauf gestoßen wäre, wenn er sich ernsthaft mit der griechischen Philosophie befaßt hätte. Webers Bereitschaft, Ordnungswahrheiten als historische Tatsachen einzuführen, machte halt vor der griechischen und der mittelalterlichen Metaphysik. Um die politische Wissenschaft eines Platon, Aristoteles oder Thomas zu "Werten" unter anderen herabzuwürdigen, hätte ein gewissenhafter Gelehrter erst zeigen müssen, daß ihr Anspruch auf Wissenschaftscharakter unbegründet sei. Und dieser Versuch, wenn er unternommen wird, überwindet sich selbst: denn wenn der Kritiker soweit in die Metaphysik eingedrungen ist, daß seine Kritik Gewicht hat, ist er selbst Metaphysiker geworden. Der Angriff auf die Metaphysik kann mit gutem Gewissen nur dann gewagt werden, wenn man ihn von der sicheren Distanz unvollständigen Wissens her unternimmt. Der Horizont von Webers empirischer Soziologie .war außerordentlich weit; um so deutlicher werden in seiner Vorsicht, ihrem entscheidenden Kern zu nahe zu kommen, die positivistischen Schranken sichtbar. (Fs)

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