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Autor: Thomas, Aquin von

Buch: Über die Herrschaft der Fürsten

Titel: Über die Herrschaft der Fürsten

Stichwort: »politische Ethik«; heute: Trennung von Politik und Ethik; 'Tugend' und 'Glückseligkeit'; 'Hierarchie der Lebenszwecke'

Kurzinhalt: moderne politische Theorie: Trennung von Politik und werden Ethik; Glückseligkeit für Thomas: die höchste Vollendung der geistigen Natur; Tugend: Entfaltung der menschl. Natur

Textausschnitt: In der modernen politischen Theorie werden Ethik (sofern diese überhaupt noch als Gegenstand der Wissenschaft betrachtet wird) und Politik getrennt, was übrigens in der Konzeption einer besonderen »politischen Ethik« am deutlichsten wird. Im Grunde offenbart sich darin, daß die Zwecke des Individuums und des Staates auseinandergefallen sind, daß der Mensch aus dem Staat »ausgewandert« ist. Thomas erklärt dagegen ausdrücklich, daß die Lebensziele des einzelnen und der Gesamtheit identisch sein müssen (I, 14). Daher werden bei ihm die Ethik und das Problem des Lebenssinns sogar zum Kernstück der Lehre von der Politik, von dem her erst alle weiteren politischen Probleme institutioneller, wirtschaftlicher und militärischer Art sinnvoll eingeordnet und gelöst werden können. (85f; Fs)
21/N Obwohl im Grunde recht einfach, ist die Thomasische Ethik verständlich; nicht mehr ohne ausgreifende Interpretation verstandlich; zu sehr läuft unser Denken noch in den Bahnen der Kantischen Ethik und der modernen Moralisten, ja die Tugendlehre z. B. ist als ausdrückliches Lehrstück überhaupt aus dem Bildungskanon verschwunden. Einige Hinweise seien dennoch versucht: Die zentralen Begriffe der klassischen Ethik und Politik sind die uns so hausbacken und unpolitisch klingenden Begriffe 'Tugend' und 'Glückseligkeit'; sie umreißen das Ziel menschlichen Lebens, das als Triebkraft alles Handeln bewegt: Was immer das Motiv des Handelns sei, das Erlangen von Vergnügen, Reichtum oder Ruhm (vgl. I, 7 f.), hinter allem steht immer das Streben nach Glück als dem höchsten Ziel. Wenn aber Glück kein trügerischer Gefühlszustand sein soll, dann kann es nicht auf beliebige Weise erreicht werden, sondern nur in der Obereinstimmung des Menschen mit seinem Wesensgesetz. Glückseligkeit ist daher für Thomas nur »die höchste Vollendung der geistigen Natur«, nach der jeder unwillkürlich, wenn auch vielleicht irrend strebt. Eine solche Entfaltung der menschlichen Natur gewährleisten die 'Tugenden(, die in der klassischen Ethik nicht, wie bei Kant z. B., Knebelung der natürlichen Neigungen, sondern im Gegenteil Vollendung der natürlichen Fähigkeiten des Menschen gemäß seiner Natur bedeuten. (86; Fs)
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22/N Dieses Lebensziel der Selbstentfaltung kann nach Thomas nicht privatistisch verstanden, sondern muß zurückbezogen werden auf den Staat, weil das Individuum wesentlich, d. h. nicht nur in materieller, sondern auch in geistiger Hinsicht, ergänzungsbedürftig - d. h. unaufhebbar unvollkommen (insuf ficiens) - ist. Der Zweck des Staates ist demnach nicht nur die einfache Lebenssicherung ('das Leben' in klassischer Terminologie), wie das erste Kapitel des Fürstenspiegels nahezulegen scheint, sondern das 'gute Leben', das alle Entfaltungsmöglichkeiten des einzelnen umgreift.
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... Diese 'Hierarchie der Lebenszwecke' beläßt zwar allen Teilzwecken ihren Eigenwert entsprechend ihrem Nutzen für die Gesamtentfaltung einer menschenwürdigen Gesellschaft, verbietet ihnen aber damit zugleich, sich von dem höchsten Ziel menschlichen Daseins zu emanzipieren und dadurch ihren Sinn zu verlieren. In der Auflösung dieser sinnstiftenden Hierarchie der Lebenszwecke zugunsten eines Pluralismus autonomer Lebensbereiche dürfen wir wohl die entscheidende Antithese der Moderne und vermutlich den Ursprung des Entfremdungsgedankens sehen.

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