Brian Cronin, Einführung zum Denken Lonergans

1. Teil I - Denken: direkte und inverse Einsicht
1. Suche nach den Grundlagen
1. Die Bedeutungsstufen


1.1.1.1 Der Common Sense in traditionellen Kulturen

1.1 Der Common Sense in traditionellen Kulturen

Der Begriff "Common Sense" bezieht sich gewöhnlich auf eine bodenständige, praktische und vernüftige Haltung. Der Webster definiert ihn als "zweckmäßiges und besonnenes, doch häufig schlichtes Urteilsvermögen'. Wir führen hier eine davon leicht abweichende Bedeutung ein: jene einer undifferenzierten, praktischen und auf das Kurzfristige bezogenen Denkweise. Das Folgende ist eine anthropologische Erklärung der Kennzeichen dieser Denkweise. Später analysieren wir, was der Grund dieser Common-Sense-Denkweise ist und warum sie von der Theorie abweicht. In diesem Zusammenhang werden wir eine fachliche Definition von der Beschreibung und Erklärung geben.

Mit dem Begriff "traditionelle Kulturen" umfassen wir die frühen griechischen Mythologien, das Volk des Alten Testamentes, frühe amerikanisch-indianische Kulturen, afrikanische traditionelle Kulturen, die frühen Kelten, die Eingeborenen Australiens, frühe ägyptische und babylonische Kulturen und viele andere. Trotz der außerordentlichen Vielfalt der Sprachen, Anschauungen und Leistungen dieser Kulturen, sind wir berechtigt, sie unter einer Klasse zusammenzufassen, weil ihnen allen die Common-Sense-Denkweise in unserer Bedeutung dieses Begriffes gemeinsam ist.

Diese Kulturen waren einfache Gesellschaften in Sinne einer Undifferenziertheit oder Kompaktheit[1]. Es gab einen fließenden Übergang und eine Vermischung von politischen und sozialen, religiösen und moralischen, wirtschaftlichen und praktischen Belangen. Es gab noch keinen Bedarf an spezialisierten Institutionen, Erziehung und Sozialisation gaben die Traditionen auf informelle Weise in Liedern, Zeremonien und vorgeschriebenen oder rituellen Weisen des Umgangs mit Dingen weiter. Wirtschaftliche Institutionen bestanden einfach in der Praxis, wie man das Land bestellen, kochen, Tausch betreiben und sich in bestimmten Fertigkeiten verbessern könne.

Mündliche Kulturen entwickelten Sprachen, die reich an Sprichwörtern, Bedeutungsnuance und zwischenmenschlichen Beziehungen waren, einen Sinn für die praktischen Details der Nahrungsbesorgung und Arbeit hatten, denen es aber an Genauigkeit, Bestimmung und Unterscheidung mangelte, an mathematischen Referenzausdrücken oder Abstraktionen. Die Realität bestand vorwiegend in zwischenmenschlichen Beziehungen: Die Vorrangstellung der Gemeinschaft, die Zugehörigkeit zur Gruppe, das Sichidentifizieren mit dem Clan. Der weitere Kosmos wurde vorzugsweise nach der Familienstruktur gedeutet: Die Sonne als Vater, der Mond als Mutter, die Sterne als Kindern. Symbole und Mythen sprachen die Gefühle und Imagination an. Sie konnten leicht im Gedächtnis bewahrt und weitergereicht werden, und sie gaben Antwort auf die umfassenden Fragen über Gott, das Leben, den Tod, die Krankheit, die Ursprünge und das Schicksal.

Die Kompaktheit in allen Lebensgebieten ließ keine klare Unterscheidung zu, und so sehen wir eine gefährliche Verwechslung zwischen dem Symbol und dem Symbolisierten, dem Bild und dem Ralen, zwischen Träumen und wachem Bewusstsein, der Sehnsucht und Erfüllung. Die Sonne, die Berge, der Mond oder ein Goldenes Kalb vermögen das Göttliche zwar zu symbolisieren, werden jedoch häufig in solchen Kulturen eher zum verehrten Objekt selbst, als dass sie ein Symbol für das Göttliche wären. Frazer prägte den Ausdruck Übertragungsmagie um den dem Bild einer Person zugefügten Schaden zu beschreiben, der die Person selbst treffen soll[2]. Träume im Alten Testament können so außergewöhnlich sein, dass sie als bedeutungsvolle Anspielung auf zukünftiges Geschehen verstanden werden. Segenssprüche oder Flüche sind Ausdrücke starken Verlangens von Liebe oder Hass; sie müssen eine Wirkung auf das von Ihnen Bezeichnete haben; sie werden ausgesprochen und können nicht mehr zurückgenommen werden. Auf diese Weise verwechselt man die Wünsche mit ihrer Erfüllung.

Die Rhythmen der Natur verlaufen meist zyklisch: der Tag, das Monat, die Jahreszeiten, das Jahr, Geburt und Tod. Eine Generation folgt auf die andere. Das Leben erfolgt in Übereinstimmung mit diesen wiederkehrenden Zyklen; die Idee eines linearen historischen Fortschrittes erschiene als sehr fremd. Die Götter, das Göttliche, die Geister der Ahnen, die Orts- Erd- und Flussgeister - alle bewohnen eine spirituelle Welt, die mit der körperlichen sehr eng verbunden ist. Religion, Aberglaube und empirisches Denken überschneiden und vermischen sich. Die Missernte mag schlechten Anbaumethoden zugeschrieben werden, dem Zorn der Ahnen, dem Hexenzauber eines eifersüchtigen Nachbarn, der Strafe Gottes oder irgendeiner Kombination davon.

Die Sprachen solch traditioneller Kulturen sind arm an Ausdrücken wie Gewissen, Bewusstsein, Absicht, Gefühl, psychische Spannung, Seele, Verstand und Wille, Freiheit und Verantwortung. Auf innere Zustände wird durch Verweissymbole wie Kopf, Herz, Atem oder die inneren Teile des Körpers hingewiesen. Das Innere wird gern in Göttererscheinungen und Unterredungen mit den Göttern projiziert, auf göttliche Zeichen und auf in Stein gehauene Gebote. Die Freiheit wird gewöhlich als dem Schicksal unterworfen verstanden. Glaubensüberzeugungen werden durch Mythus und Ritus ausgedrückt und von Generation zu Generation weitergereicht.

Diese Kulturen waren praktisch, insofern dem Überlebenskampf die höchste Priorität zukam. Die Umwelt war oft ziemlich unwirtlich; die Technologien waren einfach und die Herausforderungen zahlreich. Einige Kulturen brachten außerordentlich große Leistungen zustande wie zum Beispiel die Pyramiden oder die Städte der Mayas.

Der Common Sense schließt die Unterscheidung zwischen wahr und falsch, recht und unrecht, gut und schlecht nicht aus. Diese Kriterien waren wirksam zugegen, jedoch nur implizit, und sie konnten nicht ausdrücklich gemacht werden. Sie waren wirksam zugegen, aber nicht auf allen Gebieten und nicht zu allen Zeiten. Die unzulängliche Unterscheidung zwischen Bild und Idee, Traum und Realität, dem Symbol und dem Realen führt zu einer ständigen Unklarheit. Katastrophen zum Beispiel schrieb man einmal natürlichen Ursachen zu, dann wieder dem Aberglauben, der Zauberei oder der göttlichen Strafe. Diese Unzulänglichkeiten bereiteten schließlich den Weg für den Bereich der Theorie.


 
[1] Siehe: See John Taylor, The Primal Vision: Christian Presence amidst African Religions, (London: SCM Press, 1963). Das wertvolle Beispiel eines Autors mit einem tiefen Erfassen der Einheit und Kompaktheit von einfachen Gesellschaften.
[2] James George Frazer, The Golden Bough: A Study in Magic and Religion, (London: Macmillan, 1922). Anm. d. Übers: In der Übersetzung von "Übertragungsmagie" für "contageous magic" folge ich der deutschen Ausgabe des Buches in der Übersetzung von Helen von Baur: James George Frazer, Der goldene Zweig. Das Geheimnis von Glauben und Sitten der Völker, rowohlts enzyklpädie, 2000.

 

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