Brian Cronin, Einführung zum Denken Lonergans

1. Teil I - Denken: direkte und inverse Einsicht
1. Suche nach den Grundlagen
2. Vom Inhalt zu den Tätigkeiten


1.1.2.2 Vom Inhalt zu den Tätigkeiten

Für gewöhnlich ist die Richtung unserer bewussten Tätigkeiten äußeren Gegenständen zugewandt. Ein Kleinkind ist durch die Sinne beinahe völlig auf die Gegenstände ausgerichtet, die es ergreifen, berühren, wegwerfen oder in den Mund nehmen kann. Wir sind zum größten Teil in einer Welt von Gegenständen in diesem Sinne beheimatet. Unsere Sinne richten uns vehement nach außen zu dem in der äußeren Welt Sichtbaren, Hörbaren und Spürbaren hin. Fordert man Studenten auf, Beispiele von Verstehensakten anzuführen, nennen die meisten praktische Beispiele, wie man etwa ein leckes Rohr abdichten, die Moskitoplage in den Griff bekommen, eine Computerstörung beheben kann oder Entdeckungen von Verbesserungen zur Arbeitserleichterung. Piaget zeichnet die intellektuelle Entwicklung des Kindes entsprechend jener (Art von) Tätigkeiten auf, die es an Objekten vollziehen kann . In der senso-motorischen Periode (1.-2. Lebensjahr) kann das Kind etwas erfassen und halten, an etwas saugen, es kann gehen usw. In der vor-operational Periode (2.-7. Lebensjahr) vermag das Kind diese Grundfähigkeiten durch Assimilation und Adaption auf einen neuen Objektsbereich anzuwenden; es kann sprechen, Vergleiche anstellen und Mittel und Zweck aufeinander beziehen. In der konkret-operationalen Periode (7.-11. Lebensjahr) kann/lernt das Kind mit Gruppen umzugehen, es kann klassifizieren, zählen und ein Urteil fällen. Erst in der formal-operationalen Periode (11.-15. Lebensjahr) ist ein junger Mensch in der Lage, abstrakte Gesetze auf eine Vielzahl von Objekten anzuwenden, etwa um zu bestimmen, was für Gegenstände auf dem Wasser schwimmen können und warum. Das setzt die Fähigkeit voraus die Naturgesetze von spezifischem Gewicht und Auftrieb richtig anzuwenden. Piagets Analyse weist auf, wie mächtig unsere Orientierung auf Objekte ausgerichtet ist und wie unsere intellektuelle Entwicklung mit den Tätigkeiten verbunden ist, die wir an Objekten ausführen können. Selbst bei der Infinitesimalrechnung, in der Physik und den Humanwissenschaften wenden wir immer verfeinertere Techniken und Gesetze nur an, um noch komplizierter Tätigkeiten mit Objekten anstellen zu können. Können wir über einen Fünzehnjährigen, der formale Tätigkeiten an Objekten vollziehen kann, einen Schritt hinausgehen und uns den Handlungen und Tätigkeiten selbst zuzuwenden? Können wir uns der geistigen Tätigkeiten, wodurch wir Handlungen vollziehen, ebenso bewusst werden, als wir uns jener Objekte bewusst sind, denen der Vollzug unserer Handlungen gilt? Wenn wir über unsere Träume vernünftig reden können, können wir in ähnlicher Weise vernünftig über unser Denken, Verstehen und Wissen reden? Wir behaupten, dass wir es können. Das ist der Schlüssel für den Übergang aus der Welt der Theorie zu jener der Interiorität. Was geschieht eigentlich, wenn wir etwas verstehen? Was für Tätigkeiten sind dabei miteinbezogen? Was kommt vorher, was nachher, und was ist die übliche Reihenfolge der Ereignisse? Das sind alles Fragen, die wir nur beantworten können, indem wir unsere Aufmerksamkeit von den Inhalten zu den Tätigkeiten unseres Geistes verlagern. Das erfordert eine besondere Methode. Es ist nicht schwer, die Aufmerksamkeit auf Gegenstände zu lenken, weil sie sinnlich erfahrbar und relativ beständig sind. Unsere Geistestätigkeiten aber sind flüchtig, vorübergehend und nur unter Mühen fassbar. Wir können einen Verstehensakt nicht einfrieren, wie es ein Biologe mit seinem Material anstellen kann, um es dann unter das Mikroskop zu legen. Wie können wir dann eine so unbestimmbare Tätigkeit festmachen? Es gelingt uns erst in einem zweiten Schritt. Zuerst zerbrechen wir uns über etwas den Kopf, wir machen uns an verschiedene Lösungen heran, bis wir schließlich die richtige Lösung finden; in einem zweiten Schritt verlagern wir unsere Aufmerksamkeit vom Problem weg zu jenen Tätigkeiten hin, wodurch es gelöst wurde. Ein Fußballer wird seine Aufmerksamkeit für gewöhnlich auf den Ballgewinn lenken, auf die Manndeckung, das Ausmachen einer Lücke, den Angriff, die Verteidigung, Attacke usw. Am nächsten Tag kann er sich dann die Videoaufnahme ansehen und sich damit auseinander setzen, warum er gerade das eine tat, und was in seinem Kopf vorging, als er das andere tat usw. Er kann zurückdenken und sich zunehmend des Geschehenen bewusst werden. Wir spielen Fußball und können analysieren, wie wir Fußball spielen. In ähnlicher Weise wenden wir uns zuerst dem Verstehen eines Problemes zu; in einem zweiten Schritt analysieren wir den Übergang vom Problem zur Lösung: was für Strategien und Taktiken kamen dabei zu Anwendung, welche führten zum Erfolge und welche waren ein Fehlschlag. Können wir all diese geistigen Tätigkeiten in dieser frühen Phase schon grob in Gruppen einteilen? Fordert man Studenten auf geistige Tätigkeiten anzugeben, vermögen sie für gewöhnlich dreißig bis vierzig aufzuzählen, und es fällt nicht schwer, sie in Gruppen einzuteilen. Am eindeutigsten sind dabei die äußeren Sinne. Wir können die Tätigkeiten des Sehens, Hörens, Tastens, Fühlens, Riechens und Fühlens in einer Gruppe zusammenfassen. Es gibt aber auch die inneren Sinne, vor allem die Imagination und das Gedächtnis. Die Gedächtnistätigkeit besteht darin, sich Ereignisse und Objekte der Vergangenheit in die Erinnerung zu rufen. Die Imagination ist für gewöhnlich eine Tätigkeit sich ein abwesendes Objekt vorzustellen oder sich ein Bild von etwas nicht Existierendem zu machen. Zusätzlich gibt es dazu eine Vielfalt von Tätigkeiten wie: das Fragen, Abschätzen, Sich-etwas-Ausdenken, Begreifen, Klassifizieren, Definieren, Urteilen, Wissen, Verstehen, Vermitteln, Betrachten, Auswählen, Lieben und Hassen. Sie scheinen alle transitiv zu sein, also Tätigkeiten, die ein Objekt haben müssen. Obwohl es nicht einfach ist, die Aufmerksamkeit von den Objekten zu den Tätigkeiten hinzuwenden, gibt es Anzeichen, dass es sehr lohnend sein könnte, diesen Weg zu gehen, und dass es uns jene Art integrierender Einheit geben könnte, nach der wir suchen. Es gibt praktisch eine unbegrenzte Zahl von Objekten, die man sehen kann; es gibt keine Grenze hinsichtlich der Zahl und Form, der Farbe oder Größe der Objekte. Auch Begriffe stellen gewissermaßen eine unbegrenzte Menge dar, wenn wir aber die Tätigkeit des Begriffe-Bildens erfassen, dann haben wir etwas erfasst, was allen Begriffen gemeinsam ist. Es gibt viele Urteil, aber nur eine Tätigkeit, die sie alle hervorbringt. Bibliotheken und Enzyklopädien sind bis zum Bersten voll mit unserem Gegenstandswissen, es gibt jedoch ein Muster von Tätigkeiten, wodurch all das gewusst wird. Wenn wir begreifen, wie die verschiedenen Tätigkeiten des Sehens, Verstehens, Begriffe-Bildens und Urteilens sich mit dem authentischen menschlichen Erkennen verbinden, dann werden wir in irgendeiner Weise auch eine Einheit hinter all der Verschiedenheit der Objekte erfassen können.

 

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